Die kurze Emigration des Paul Eggel aus Naters

Zur Vor- respektive Quellengeschichte

Im November 2014 habe ich gemeinsam mit meiner Frau auf einer Argentinienreise auch San Jerónimo Norte (SJN) besucht, das von den ersten Walliser Auswanderern gegründete Dorf westlich von Santa Fe mit heute gut 7'000 Einwohnern. Einer der Gründe für die Reise war, dass ich bei der Recherche zum Binntalbuch mit dem Ethnologen Klaus Anderegg in Kontakt kam und dabei nicht nur vieles über die Walliser Auswanderung erfuhr, sondern in der Folge für ihn zahlreiche Briefe (auch aus SJN) transkribierte. Wir wussten, dass bis heute rege Kontakte bestehen zwischen den Nachkommen der Auswanderer und dem Wallis.

Aus Santa Fe angereist, wurden wir vom Vizepräsidenten des Schweizer Vereins und von dessen Vorgänger herzlich begrüsst. (Beide sprachen mit uns Hochdeutsch.) Sie luden uns für später zum Essen ein, und Roque Oggier1, der ehemalige Vize, organisierte für uns mehrere Treffen, insbesondere mit älteren Personen der vierten Generation, die das Walliser Deutsch noch beherrschten.

Schon kurz nach der Ankunft begegneten wir einem älteren Herrn, der, als er hörte, dass wir aus der Schweiz kamen, ins Wallisertiitsch wechselte und uns für den Nachmittag zu sich nach Hause einlud. Zunächst führte uns Herr Oggier jedoch auf den Friedhof, wo auch die Gräber der ersten Auswanderer noch vorhanden sind. Auf den Grabmählern lasen wir Namen wie Albrecht, Blatter, Imhoff, Jullier, Nanzer, Kuchen, Walpen, Volken, Zurbriggen. Auch dort begegneten wir einem älteren Mann. Ich sprach ihn versuchsweise auf Schweizerdeutsch an. Verblüffend seine Reaktion: Du redisch aber keis Wallisertiitsch - drum darfsch nid z'schnell redä, wenn ich dich sell verstah! Es war Edison Eggel, mit dem wir uns später ebenfalls zum Gespräch trafen. Dort erfuhren wir, dass seine Vorfahren aus Naters stammten und zu den Erstauswanderern gehört hatten. Bis in die 4. Generation seien sie Bauern geblieben. Seiner Familie gehöre ein Hof mit 140 Milchkühen. Inzwischen hätten sie ihn verpachtet und seien ist ins Dorf gezogen.

Edison Eggel auf dem Friedhof in San Jerónimo Norte. Im Hintergrund die Grabmäler von Erstauswanderern. (Aufnahme vom 05.11.2014.)
Edison Eggel auf dem Friedhof in San Jerónimo Norte. Im Hintergrund die Grabmäler von Erstauswanderern. (Aufnahme vom 05.11.2014.)

Vor den Privatbesuchen begleitete Oggier uns in die Kirche, ins älteste Gebäude im Dorf, danach ins Gemeindehaus und schliesslich zum Haus des Schweizer Vereins. Wir stiessen überall auf reges Interesse. Besonders eindrücklich und auch inhaltlich ergiebig waren dann die Gespräche bei den Leuten zuhause. Über die Familiengeschichten bekamen wir ein lebendiges Bild von 150 Jahren San Jerónimo Norte. Gastgeber waren durchwegs Leute im hohen Alter, die uns ein Walliserdeutsch aus dem 19. Jahrhundert erleben liessen. Das war nicht ihre Umgangssprache, aber mit einigem Stolz führten sie uns eine Urmuttersprache vor, die sich, was Wortschatz und Sprachmelodie betrifft, wohl wenig vom Idiom ihrer Vorfahren unterschied. Ihnen war dies durchaus bewusst, nicht zuletzt, weil alle schon mal ins Wallis gereist und dort dem heutigen Sprachstand begegnet waren. Wir gehörten wohl zu den letzten Zeugen dieser konservierten Altsprache. Justino Walker zum Beispiel erzählte, wie nicht nur in seiner Familie das Wallisertiitsch in einer Art gepflegt wurde, dass die Kinder zweisprachig aufwuchsen. Das sei heute nicht mehr so. Viele Nachkommen der fünften und (damals) sechsten Generation besuchten wohl Deutschkurse, lernten dort aber Hochdeutsch. Den Walliser Dialekt könnten sie weder sprechen noch verstehen. Den Gastgebern war schmerzlich bewusst, dass nach ihrem Tod die alte Sprache höchstens noch in Tondokumenten erhalten bleiben würde. Da wir ein Aufnahmegerät dabeihatten, konnten wir selbst ein solches Dokument in die Schweiz mitnehmen

Ebenso eindrücklich wie ergiebig war der Besuch bei José Luis Eggel-Lagger und seiner Frau. Seine Vorfahren waren wie jene des Namensvetters Edison Eggel um 1860 von Naters nach Argentinien ausgewandert. Wir staunten, als er uns sein Privatarchiv zeigte: eine beeindruckende Sammlung von Text- und Bilddokumenten. Wir konnten einiges Bildmaterial fotografieren. Aus der Textsammlung entnahm er auch ein Korpus mit zwischen 1877 und 1882 geschrieben Briefen aus Naters. Lesen konnten wir sie vor Ort nicht. Schon weil die Zeit dazu fehlte, besonders aber wegen der schwer lesbaren Schrift. Es war klar, dass sich die Inhalte erst übers Transkribieren erschliessen liessen. Oggier, der uns zum Ehepaar Eggel begleitete, nahm das Korpus sowie weitere Textdokumente entgegen, begab sich damit ins Gemeindehaus und kam mit Kopien zurück.

Fotos aus dem Archiv von José-Luis Eggel (dampfgetriebene Schlepper -- einer mit Dreschmaschine -- aus der Zeit nach 1900).
Fotos aus dem Archiv von José-Luis Eggel (dampfgetriebene Schlepper -- einer mit Dreschmaschine -- aus der Zeit nach 1900).

Nach dem Abschied von José Luis Eggel und seiner Frau fuhr uns Oggier in sein Haus und stellte uns seine Frau und einen seiner Söhne vor. Er ist Elektroinstallateur und Inhaber eines Elektrofachgeschäfts. Bei ihm zuhause drehte sich das Gespräch auch um einen unerwarteten Sachverhalt, um die eidgenössische Volksabstimmung vom 30. Oktober 2014. Wie viele andere im Dorf haben die Oggiers neben dem argentinischen auch den Schweizer Pass. Deshalb bekommen sie regelmässig die Wahl- und Abstimmungsunterlagen zugestellt. Zu ebendieser Zeit hatten sie wieder solche Post bekommen. Sie nutzten die Gelegenheit, Fragen zu den drei Initiativbegehren zu stellen, da ihnen die Sachverhalte Kopfzerbrechen bereiteten, sie aber die Stimmzettel unbedingt ausgefüllt zurücksenden wollten. Zur Entscheidung standen die Volksinitiativen «Schluss mit den Steuerprivilegien», «Stopp der Überbevölkerung», «Rettet unser Schweizer Gold». Für uns war es ein Rollentausch; sie stellten Fragen, und wir versuchten sachgerecht zu antworten. Besonderes schwer taten sie sich mit der Überbevölkerungs-Vorlage2, der sogenannten Ecopop-Initiative. Für uns war die Situation insofern speziell, als wir selbst für einmal der Abstimmung fernbleiben würden. (Ende Oktober würden wir noch immer ins Südamerika sein.3) Auch wenn wir die Absicht der Initianten so neutral wie möglich zu vermitteln versuchten, dürften die Zuhörer gespürt haben, welche Meinungen wir vertraten. In gewissem Sinne stimmte die Familie Oggier auch stellvertretend für uns ab.

Unterlagen für die eidgenössischen Abstimmungen vom 30.11.2014.
Unterlagen für die eidgenössischen Abstimmungen vom 30.11.2014.

Gegen Ende der Besuchstour wurde es nochmals richtig spannend. Wir wurden von Maria Carmen Jullier erwartete. Aus der französisch sprechenden vitalen Frau sprudelte es nur so heraus; sie vermittelte uns ein lebendiges Bild von der Gründungsgeschichte der Kolonie. Frau Jullier kannte sich darin aus wie bestimmt niemand sonst im Ort, hatte sie doch nahezu das ganze verfügbare Quellenmaterial ausgewertet und darüber publiziert. Bis in Einzelheiten hinein konnte sie über die Sachverhalte erzählen. Über Ricardo Forster und Lorenzo Bodenmann4 etwa sprach sie so detailreich, als wäre sie den beiden um 1857 selbst begegnet. Zum Abschied schenkte sie uns ein gedrucktes Exemplar ihrer Forschungsresultate.

Maria Carmen Jullier am 5. November 2014 beim Erläutern der Familiengeschichte der Julier aus dem Walliser Dorf Ernen.
Maria Carmen Jullier am 5. November 2014 beim Erläutern der Familiengeschichte der Julier aus dem Walliser Dorf Ernen.

19 Uhr war schon vorüber, als wir ein letztes Mal in Roque Oggiers Auto stiegen und von ihm nach Santa Fe zurückgefahren wurden. Hinter uns lag ein ereignisreicher Tag; wir waren Menschen voller Herzenswärme begegnet, darunter wirklichen Originalen. Vieles ist uns in lebendiger Erinnerung geblieben.

Die Emigranten der Familie Eggel aus Naters

Der Entwicklungsschub in Teilen des Oberwallis

Die in der Einleitung genannten Briefe aus dem Archiv von José Luis Eggel bilden die Grundlage für die nun folgende Auswanderer-Geschichte. Die Texte erlauben zwar bloss kurze Einblicke in das Leben von hauptsächlich drei Männern, beleuchten aber den Emigrationskontext für einmal aus einer anderen Perspektive. Das macht sie fürs Thema besonders wertvoll. Wegen manch schwer lesbarer Stellen war das Transkribieren mühsam, aber der Aufwand hat sich gelohnt. Die unleserlichen Passagen beeinträchtigten des Gesamtverstehen nicht. Weil die Briefe bis auf zwei vom Wallis nach Argentinien gingen, und nicht umgekehrt, vermittelt die Korrespondenz Informationen, die man üblicherweise höchstens indirekt erhält. Kommt dazu, dass sie zu einer Zeit geschrieben wurden, als sich in Brig und Naters, ja, im Oberwallis überhaupt, richtungsweisende Veränderungen abzuzeichnen begannen.

Es sind zwölf im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts geschriebene Briefe. Sie entsprechen nur einem Bruchteil der damaligen Korrespondenz zwischen Naters und San Geronimo, aber sie vermitteln aufschlussreiche Sachverhalte. Sieben Texte stammen aus der Feder von Anton Eggel aus Naters; sechs adressierte er an den Sohn Paul, einen an Josef, seinen Bruder. Paul erhielt auch einen Brief mit der Anrede Vielgeliebter Bruder. Erstaunlicherweise enthält das Dossier auch zwei Briefe von Josef Eggel aus der Kolonie. Wie sie ins Archiv gelangten, konnte sich José Luis Eggel selbst nicht mehr erklären; möglicherweise waren es Textentwürfe. Sie sind nach Naters adressiert, der eine an Bruder Anton, der andere an den Neffen Paul. Wie es dazu kam, dass Paul Eggel ins Wallis zurückkehrte, ist Dreh- und Angelpunkt der nun folgenden Geschichte.

Edison und José Luis Eggel, die wir in SJN getroffen haben, sind Nachkommen der Auswanderer in vierter Generation5. Ihr Ururgrossvater war Josef Eggel, der 1861 von Naters nach Argentinien auswanderte und zur Gründergeneration der Colonia San Geronimo, dem heutigen San Jerónimo Norte, gehörte. Auf der Liste der Emigranten aus Naters finden sich auch die Namen Joseph Eggel des Joseph Eggel und Kaspar Jossen des Peter Joseph. Josef Eggel6 war Antons jüngster Bruder, Kaspar Jossen, verheiratet mit Pulcheria Eggel, sein Schwager. Beide wanderten ebenfalls 1861 aus. (Zu dieser Zeit war Anton Gemeindepräsident von Naters.)7 Johannes, der älteste Bruder, folgte ihnen 1876/77. Von Anton Eggels elf Geschwistern liessen sich weitere drei Schwestern und zwei Brüder in der argentinischen Kolonie nieder. In den Briefen wird zudem ein Johannes als dort Ansässiger genannt; er war mit Anton verwandt. Auf der Liste wurde er 1868 als Auswanderer eingetragen. Sein Vater hiess Moritz. Wahrscheinlich waren Johannes' und Josefs Väter Geschwister. Paul Eggel ist auf keiner Liste verzeichnet. Er kam als 20-Jähriger um 1876/77 mit Onkel Johannes nach Argentinien. Zu dieser Gruppe gehörten wahrscheinlich weitere Walliser Emigranten.

..., wenn wir dir lieb sind u dich an unserer Haushaltung etwas liegt, so musst du …

Bemerkenswert ist, dass Anton Eggel seinem Sohn schon kurz nach dessen Abreise nach Argentinien schreibt. Warum, das wird sich in der Folge zeigen; jedenfalls war es nicht in erster Linie väterliche Sorge um dessen Wohlergehen. Zwischen Paul und Onkel Josef, er war 13 Jahre jünger als Pauls Vater, bestand in San Geronimo von Beginn weg ein Vertrauensverhältnis. Paul stand ihm emotional nahe und fühlte sich am neuen Ort wohl. Die Beziehung zu «Etter»8 Josef dürfte auf die frühe Kindheit zurückgehen, als dieser noch in Naters wohnte. Die Brüder Anton und Josef waren, was später deutlich wird, unterschiedliche Charaktere. Beide hatten das Lehrerseminar in Sitten besucht, Anton Im Jahr 1851, sein Bruder fünf Jahre später. Anton war eine Zeitlang Lehrer in Naters; im Schuljahr 1854/55 zum Beispiel unterrichtete er 71 Schüler und wurde mit 85 Franken entlöhnt.9 (Damals dauerte das Schuljahr nur fünf Monate; Lohn bekamen die Lehrpersonen nur während dieser Zeit.) Über Josefs Lehrtätigkeit in Naters ist nichts bekannt, aber er gründete die Schule in der Kolonie. Höchstwahrscheinlich stand Paul mit ihm schon länger im brieflichen Kontakt. Vielleicht emigrierte er nicht zuletzt deshalb, weil zwischen ihnen ein Vertrauensverhältnis bestand.

Statt der Geschichte weiter vorzugreifen, will ich jetzt auf den ersten Brief eingehen. Geschrieben wurde er am 11. April 1877. (Die Jahre zuvor, 1871-1876, war Anton Eggel zum zweiten Mal Gemeindepräsident gewesen.) Die Anrede lautet «Liebster Sohn Paul!» Inhaltlich bleibt der Text in vielem rätselhaft, was einerseits am gedanklichen Durcheinander, andererseits auch daran liegt, dass Dörfliches angesprochen wird, mit dem der Adressat vertraut war, uns heute jedoch höchstens halbwegs verständlich ist. Gleichwohl lässt sich eine Grundthematik herauslesen: Den Sohn ziehen zu lassen, sei für ihn, den Vater «eine schwere Aufgabe» gewesen. Auch darum, so der Vater, «weil ich den besten Trost an dir habe». Bezüglich Bildung und Ausbildung habe er ihn stärker gefördert als die anderen Kinder. Er attestiert Paul mehr kognitive Fähigkeiten als seinen Brüdern Johann und Moritz.10 (Über das geistige Potenzial von Töchtern und Frauen äusserten sich Männer zu dieser Zeit in der Regel nicht.) Und er meint, daraus solle Paul rasch finanziellen Nutzen ziehen. Er kommt auch gleich zur Sache: Wenn es ihm am neuen Ort nicht besser gehe als in Naters, solle er versuchen, «einen Platz im Kloster oder bei einem Herr zu bekommen», damit er «die Reise gleich bezahlen» könne. Wie man das auch immer deutet, Paul scheint die Zeit, während der sein Vater Gemeindepräsident war, nicht in besonders guter Erinnerung zu haben. Dass der Vater Materielles derart gewichtete, könnte ebenfalls Anlass gewesen sein, zum Onkel nach Argentinien zu emigrieren.

Anton Eggel hat zu diesem Zeitpunkt ein finanzielles Problem. Er werde von einem Mann namens Salzmann geplagt, in Kürze eine bestimmte Summe (zurück)zuzahlen. Von diesem heisst es gegen Ende des Briefes: «Unsers Marie kommt jetz vom Salzmann fort. Er hat die Kammermagd auf Bellalp angespant.»11 Um zu verstehen, muss man spätere Briefe heranziehen: Hansmartin Salzmann führt im Bergdorf Blatten12 ein Hotel und hat dort bis kurz zuvor Anton Eggels Tochter Marie Arbeit gegeben. Nachdem er eine Kammermagd aus Belalp geholt und geheiratet hat, braucht er Marie nicht mehr. Anton Eggel schuldet dem Gastwirt Geld. Es ist nicht auszuschliessen, dass die Arbeit seiner Tochter mithelfen sollte, den Schuldbetrag zu verringern oder zumindest den Rückzahlungs-Zeitraum hinauszuschieben. Wie auch immer, jedenfalls drängt Salzmann nun, da das Arbeitsverhältnis aufgelöst ist, auf rasche Rückzahlung.

Auch über einen Brief an Pauls Bruder Johann äussert sich der Vater: «Ich habe dem Johan geschrieben als er noch in Altdorf war,13 das ich ein Kaufmann von Einsiedeln wisse für unser Vermögen, u der schreibt mir zurück, das Gut sei mein, aber ob er in Amerika gehe, das sei ein Zweites.» Das klingt noch kryptischer als der zuvor zitierte Satz. Was klar ist: Johann lebte und arbeitete eine Zeitlang in Altdorf und dachte anscheinend wie Paul ans Auswandern. Um auch den Rest zu verstehen, greife ich auf den Brief vom Februar 1878 voraus. Da heisst es, der Familie Eggel sei es unmöglich nachzukommen; ihre Sache sei «hier viel zu weit ausgedehnt», so dass sie «mit viel zu grossem Verlust» davonkämen. Im Rückschluss lässt sich die Stelle im ersten Brief so verstehen, dass Anton Eggel mit seiner Familie ebenfalls auswandern wollte. Und zwar erstaunlicherweise während seiner Zeit als Gemeindepräsident. Um zuvor die Vermögenswerte zu Geld zu machen, brauchte er einen Käufer, den er vermutlich im Kaufmann von Einsiedeln fand. Dabei hätte er auch Land verkauft, das womöglich Johann als Pachtland und/oder späteres Erbe zugedacht war. Dieser gibt zur Antwort, der Boden gehöre ja noch immer ihm, dem Vater, also habe der über den Verkauf zu entscheiden. Und was die Emigration betreffe, seien die Würfel noch nicht gefallen. (In der Annahme, auch Johanns Wegzug nach Argentinien stehe bevor, würde der Vater auch dieses Gut zum Verkauf angeboten haben.) Wenn Eggel jetzt schreibt, Emigration sei für ihn kein Thema mehr, da die Sache, die er am Laufen habe, «weit ausgedehnt» sei, lässt dies den Schluss zu, dass die Schulden bei Salzmann nicht existenzgefährdend sind oder waren.

Was erfährt man weiter aus dem Brief? Zum einen, dass die Familie Eggel in Naters über das Salzmonopol verfügt und Frau Eggel nicht gewillt ist, es abzugeben (die Auswanderungspläne also nicht unterstützt hat). Zum andern, dass er im «Prozess mit Jodri alles rein gewonnen» habe. (Während der Zeit als Gemeindepräsident war er also nicht nur mit Auswanderungsplänen beschäftigt, sondern führte auch einen Prozess.) Von grösserer Bedeutung ist die Nachricht, dass am 1. Juni gleichen Jahres die Eisenbahn nach Brig komme.14 Mit der Eröffnung der Bahnlinie ergaben sich vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten sowohl in Brig als auch in Naters mit seinem bereits touristisch erschlossenen Gebiet Belalp. Das war in sozioökonomischer Hinsicht eine Zäsur auch im Kontext der Emigrationsthematik.

In den ersten zwei, drei Jahren nach Pauls Ankunft in Argentinien gab es einen regen Briefwechsel zwischen ihm und der Familie im Wallis. In den Texten finden sich zahlreiche Verweise darauf; insbesondere schreibt Anton Eggel, wie häufig er nach San Geronimo schreibe, nicht nur seinem Sohn. Er nimmt jeweils auf Pauls Briefe Bezug, so dass man auch über dessen Leben und Absichten das eine oder andere erfährt.

Die zehn Monate bis zum Brief vom «12ten Hornung 1878» scheinen in Eggels Familie ereignisreich gewesen zu sein. Er tritt dem Sohn gegenüber sehr selbstbewusst auf. Hier eine Passage daraus:

[…] Ich habe mich auf guten Fuss gestellt, ich habe seit dem über 2'000 Fr. abgezahlt, habe Speicher und Keller eingefült, habe ausgezeichneten guten Wein / das viele Briger können trinken. Ich habe viel zu schaffen, habe wieder Unternehmung – Steine zu bereiten für den Bahnhoff in Brig.15 Ich habe den Prozes mit dem Etter Joseph reingewonnen; jetzt habe ich gefunden das der Platz neben des Etter Josephs Haus mein ist, wo wir das nächste Jahr ein Haus bauen werden, ich habe schon Baumaterial zubereitet u mit dem Maurermeister Tschugatti abgemacht u schon eine Summe darauf abverdient. Darum sage ich dir / wenn wir dir lieb sind u dich an unserer Haushaltung etwas liegt, so musst du unverzüglich trachten dich auf die Rückreise zu begeben u uns hier behilflich sein. Sage dem Etter Joseph / das es ihm solle daran gelegen sein u dich wieder in die Heimat zu deinen Eltern senden, damit du uns hier beistehen kannst. […]16

Dass Eggel in der Zwischenzeit 2'000 Franken «abgezahlt» hat – ohne Zweifel dem im ersten Brief genannten Salzmann –, lässt den Schluss zu, dass er über beträchtliche Finanzen (allenfalls auch Finanzquellen) verfügt. Welcher Kaufkraft diese Summe entsprach, lässt sich abschätzen, wenn man die Entlöhnung der Lehrkräfte vergleichend heranzieht. Erstaunlich ist, dass Eggel, der vom Sohn das Reisegeld zurückbezahlt haben wollte, sich nun als (zumindest künftiger) Unternehmer weit übers bäuerliche Gewerbe hinaus präsentiert. Wobei feststeht, dass die Familie neben dem Bauernhof auch ein Wirtshaus und einen Krämerladen mit angegliedertem Salzdepot betreibt. Wie sie Schulden dieser Grössenordnung zurückzahlen und gleichzeitig wirtschaftlich vorankommt, bleibt offen. Womöglich hat Eggel im früheren Brief bewusst tiefgestapelt, um beim Sohn bestimmte Gefühle zu wecken. Stutzig macht der vor Gericht ausgetragene Konflikt mit seinem Bruder Josef. Er habe gefunden, so schreibt er, dass «der Platz neben Etter Josefs Haus» ihm gehöre. Er prozessierte gegen den Mann, bei dem sein Sohn in der argentinischen Kolonie gastliche Aufnahme gefunden hat! Und der soll nun subito dafür sorgen, dass der Neffe ins Wallis zurückkehrt. Das schreibt er nicht dem Bruder, sondern dem Sohn. Im Sinne von: Lass dir bitte von ihm die Heimreise organisieren! Seiner Behauptung nach sei Paul vom Onkel nach Argentinien gelockt oder, anders gesagt, ihm «aus dem Haus geraf[f]t» worden. Er sei jedenfalls geschickt genug, um für Paul «bei der Regierung eine Freikarte» zu beschaffen. Er könne ja behaupten, Paul reise ins Wallis, um weitere Kolonisten nach Argentinien zu holen. Zudem provoziert er Paul mit der abfälligen Bemerkung, lernen könne er in Argentinien ohnehin nichts. Falls sie allerdings das Geld für die Rückreise nicht hätten, «so schreibe mir schnell, werde ich sogleich dem Brindlen in Sitten schreiben dich auf meine Kösten lassen kommen / das wäre ein schöner Vorschlag von uns.» Gegen Ende des Briefes versucht er Paul erneut moralisch unter Druck zu setzen: Falls er trotz allem «in Amerika» bleiben wolle, solle er ihm das möglichst rasch mitteilen, so dass er seine «Hoffnungen in die Tiefe des Meeres werfen» könne.

Fazit: Anton Eggel tritt äusserst selbstbezogen als geschäftstüchtiger Mann auf. Er ist sich anscheinend gewohnt, seine Ziele durchzusetzen, selbst gegen den eigenen Bruder. Als jemand, der zweimal während insgesamt sechs Jahren Gemeindepräsident war, geniesst er in Naters höchstwahrscheinlich Einfluss übers Normalmass hinaus.

Leider gibt es keine Hinweise auf Pauls Antwort. Der nächste Brief des Vaters stammt vom Januar 1879. Darin schlägt der Verfasser einen versöhnlichen Ton an. Paul und Onkel Josef fühlten sich womöglich in einer Weise vor den Kopf gestossen, dass sie entsprechend geantwortet haben. Eggel zeigt sich erfreut, von Paul im vergangenen November einen Brief erhalten zu haben. Zugleich formuliert er das Bedauern, dass einzelne seiner Briefe anscheinend in der Kolonie nicht eingetroffen seien. Die Forderung, Paul solle «so schnell wie möglich zurückkommen», hält er aufrecht, formuliert sie diesmal jedoch nicht mehr im Befehlston. Dafür legt er den Zeitrahmen fest, Paul solle gleich nach der ärnthezeit zurücksein. Falls das Geld fehle, werde er es besorgen.

Von Textkohärenz ist auch hier wenig zu bemerken; Familiäres, Dörfliches und Geschäftliches, alles ist in zufälliger Abfolge hingesetzt. Wiederum setzt er auf emotionalisierende Druckmittel: Die Mutter und der Grossvater seien untröstlich und würden seit seinem Wegzug «alle Tage» weinen, wobei der alte Mann noch immer hoffe, den Enkel vor seinem Ableben nochmals zu sehen. Wie Einsprengsel daherkommend, werden Appelle dieser Art gezielt ein gesetzt. Immerhin vergisst Eggel nicht, eine Paul betreffende Neuigkeit anzusprechen. Dieser habe ihm «einmal geschrieben», er lerne «beim Etter Joseph die Noten» lesen. Seine Reaktion: Das habe ihn sehr gefreut. (Er selbst hat im Lehrerseminar Noten lesen und Orgel spielen gelernt.) Schon mit dem nächsten Satz switcht er zum nächsten Thema: «Das kleine Buwisi sagt uns alle Tage du habest ihm geschrieben u lasst dich grüssen u wir auch lassen dich u alle grüssen […]». Echte Anteilnahme sähe anders aus. Immerhin geht es um etwas fürs Selbstwertgefühl des Sohnes Bedeutungsvolles. Tatsächlich lernt Paul mit Unterstützung des Onkels Kirchenorgel spielen. Dies kann auch als Reaktion auf die Bemerkung des Vaters verstanden werden, in der Kolonie werde er nichts lernen. Auf welche Kompetenzen der Vater setzt, illustrieren die despektierlichen Äusserungen über Pauls Geschwister: Moritz sei «ein guter Arbeiter», fürs Lernen jedoch «nichts»; Johann komme kaum mehr vorbei; ihm habe er «das Blatten zum Lehen gelassen»; für weiteres möge dieser «selbst sorgen». Und Marie sei häufig krank. (Gemäss Zivilstandsamt Brig hatte die Familie Eggel vier Söhne und zwei Töchter. Einer von Pauls Brüdern starb schon im 21. Altersjahr.)

Gegen Ende des Briefes lässt Eggel nebst ein paar Leuten auch seinen Bruder Josef grüssen. Paul solle ihn fragen, was er auf den Brief antworte, den er «ihm durch die Gommer habe zukommen lassen». Bekanntlich hat er gegen Josef wegen eines Bauplatzes erfolgreich prozessiert. Beim Brief handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um das amtliche Dokument mit dem Gerichtsurteil. Dass der Sohn den Onkel nach dessen Reaktion fragen soll, zeigt, wie schwierig die Beziehung der zwei Brüder zueinander ist. – Der Brief schliesst mit einer diffusen Ankündigung: Ein grösseres Geschehen stehe bevor, es betreffe ein Stück Land «auf Bellalp». Genaueres erfahre Paul aber erst «hier».

Jetzt bin ich schön gesund u Unterstützung habe ich genug

Nur zwei Monate später folgt der nächste Text aus Naters, diesmal an den liebwerthen Bruder. Tatsächlich ist es eine Antwort auf einen Brief von Josef Eggel, der aber nicht an ihn, Anton, sondern an Felix Walker adressiert war. Gleich zu Beginn heisst es: «Ich bin ganz vergnügt von der Anstellung die du meinem Sohn in St. Fee als Unterkoch verschafft hast.» Das zeigt einerseits, dass Josef Eggel nicht daran denkt, den Neffen zurwie Rückkehr ins Wallis zu motivieren. Andererseits erkennt man, wie situationsagil Anton die Information ins Positive umzudeuten vermag. Falls Paul, fährt er fort, noch in Santa Fe sei, solle er «sich dort gut einstellen, gut lehren [!] kochen u was noch besser ist Englisch lehren. Das wird uns grossen Nutzen bringen. Er muss wenigstens zwei Jahre dort sein.» Abgesehen davon, dass er glaubt, in Santa Fe werde Englisch gesprochen, trumpft Eggel mit einer Neuigkeit auf, mit der er Josef bezüglich Paul Rückkehr zum Umdenken bewegen will: Bis in zwei Jahren «werde ich auf der Bellalp ein schönes Hotel aufgebaut haben / das weit schöner ist als das [des] Herren Klingele.» Darüber habe er ihn schon im letzten Brief informiert, aber es solle «immerhin geheim bleiben». Paul gegenüber habe er das im Brief vom Januar erst angedeutet, ihn hingegen schon genauer informiert. Auch wenn er jetzt die Katze ganz aus dem Sack lässt, soll das Projekt vorderhand geheim bleiben. Den Grund dafür erfahren wir nicht. Weiter heisst es, die Burgerschaft Naters habe ihm im Jahr zuvor «6 Fischel Boden verkauft für [einen] Bauplatz auf der Alpe unterhalb […] Klingeles Eigenthum» (Das entsprach einer Fläche von knapp 3'500 Quadratmetern.) Dagegen hätten Klingele und Salzmann bei der Regierung Einsprache erhoben. Wie wir wissen, ist Klingele Hotelier auf Belalp, Salzmann in Blatten Dies habe zu «einem grossen Prozes» mit hohen Anwaltskosten geführt. Klingele habe es über 3000 Franken gekostet, ihn 400. Er habe gewonnen; das Gericht habe die Einsprache abgewiesen. Zu verdanken habe er dies dem Staatsrat17 Walther und seinem Anwalt. Bereits auf den Hotelneubau vorausweisend, umschmeichelt er den Bruder mit dem Vorschlag, er solle doch ebenfalls ins Wallis zurückzukehren und «auf der Alpe eine schöne Gesundheit» geniessen. Er setzt auf Versöhnung, insbesondere was den Zwist im Zusammenhang mit Pauls Auswanderung angeht. Das habe ihnen vor allem deshalb «weh gethan», weil sie selbst nicht hätten nachkommen können. Josef erfährt auch noch, dass Anton ein weiteres Mal am Prozessieren ist. Die Rhetorik insgesamt zielt indessen darauf ab, den Bruder zu besänftigen respektive für sich einzunehmen. Das versucht er auch übers Gesundheitsmotiv: Vergangenen Herbst sei er «zu dem Weibe» gegangen, die habe seine Krankheit gleich erkannt. «Jetzt bin ich schön gesund u Unterstützung habe ich genug». Die Frau könne ihm, Josef, bestimmt auch helfen. (Zu diesem Zeitpunkt ist dieser 40-jährig.) Auf diese Weise hofft er ihn als Vermittler zu gewinnen. Er solle seinem Sohn alles sagen, ihn aufmuntern und davon überzeugen, dass die Spekulation gewiss gut ausgehe. Immerhin würden ihn alle, sogar die «besten Herrn» unterstützen. Das sei schliesslich auch für seine «Nachkommenschaft von grossem Nutzen».

Mit dem bisherigen Kenntnisstand stellen sich unter anderem zwei Fragen: (1) Kann ein zweites Hotel auf Belalp erfolgreiche betrieben werden? (2) Wie kann Anton Eggel den Bau finanzieren? Antworten liefern die bisherigen Briefe nicht. Pauls Vater scheint geradezu besessen zu sein von der Möglichkeit, den Hotelier Klingele, aber auch Salzmann in Blatten auszustechen. Dass dabei, weshalb auch immer, das Motiv der Rache mitspielt, ist nicht zu übersehen.

Wärst du hier geblieben, so wäre ich warscheinlich auch noch ledig

Dass gerade mal ein Monat verstreicht, bis der nächste Brief nach Argentinien abgeht (18. März 1879), ist kaum Zufall. Verfasser ist Pauls Bruder Johann. Zentrales Motiv ist auch hier Pauls Rückkehr. Johann fordert sie fast ultimativ. Ein früherer Briefe vermittelte den Eindruck, auch Pauls Bruder spiele mit dem Gedanken zu emigrieren. Aus seiner Feder hört sich das anders an. Er schreibt: «… das du nach Amerika reisen wolst, das hat mir nicht gefallen». Er habe damals in Altdorf davon erfahren. Paul habe doch wissen müssen, dass er der Familie damit schade. Ihn ärgert ebenso, dass er von ihm bisher keinen Brief erhalten hat; das heisse wohl, Paul habe ihn vergessen. So sehe er sich gezwungen, ihm «einige zeichen [!] zu übersenden». Auch wenn der Text mit «Vielgeliebter Bruder» einsetzt, ist darin abgesehen von floskelhaften Wendungen von emotionaler Nähe wenig zu spüren. Über Johann selbst erfährt man, dass er mit Sofia Zenklusen verheiratet ist, zwei Kinder hat, einen Sohn und eine zehn Tage alte Tochter. Auf dem Pachtland habe er jetzt «drei Kühe zwei Ziegen 1 Kalb 1 Schwein 2 Schaaf / dieses ist mein ganzes Vieh.» Der Vater mit seinem weit grösseren Viehbestand sei mit Arbeit überlastet. Die Feldarbeit wollten er und Moritz schon machen, aber darüber hinaus gehe es ohne Pauls Mithilfe nicht, «absonderbar wen dem Vater die Spekolation gut ergeht […] auf der Belalp». Dazwischengeschoben ist noch ein Teilsatz sonderbaren Inhalts: «[…] wärst du hier geblieben so wäre ich warscheinlich auch noch ledig». Johanns Äusserungen münden in die rhetorische Frage, ob es nicht seine «Pflicht sei, zu deinen Eltern zu zurückzukommen». Umso mehr, als die Mutter «über ihr liebes Kind» ständig weine.

Bezüglich Grundhaltung tickt Johann ähnlich materialistisch wie sein Vater. Er schimpft z.B. über Verwandte, die eine Heirat planen würden, weil sie «die Vertheilung umwerfen» wollten. Es geht ums Erben, aber was genau eine Heirat ändern würde, bleibt unklar. Offensichtlich befürchtet Johann, eine vom Vater aufgegleiste Erbteilung könnte wegen einer Eheschliessung umgestossen werden. Inzwischen seien Grossvaters «Wiesen und Äcker» an den Vater vererbt worden. Wenn sie nun auch noch das erhoffte Stück Land dazubekämen, «so können wir uns den [dann] glücklich machen wenn wir wollen, den kennen wir den Geld genug machen». Wenn auch unbeholfen formuliert, so ist der Sinn doch eindeutig: Wenn die Erbteilungen einst so über die Bühne gehen, wie geplant oder erhofft, dann seien sie danach finanziell abgesichert. Die Vermutung liegt nahe, dass Anton Eggel eine Art Schuldenwirtschaft betreibt, also Geschäfte tätigt, für die er sich Geld ausleiht. – Bevor Johann den Bruder noch bittet, bestimmte Bekannte und Verwandte in der Kolonie zu grüssen, zählt er auf, wer kürzlich verstorben ist und wer sich verheiratet hat. Auch über die Schwester «Mari» schreibt er – ziemlich hämisch: Sie sei «immer noch die gleiche / sie sagt sie wolle sich jetzt dan im Herbst [ver]heiraten aber Gott weiss ob der Schmidt sie nimmt». Die Häme erklärt sich wohl damit, dass die 29-Jährige noch immer ledig ist. (Tatsächlich heiratet sie wenig später den Bauernknecht Anton Schmidt. Ihr Vater bemerkt später, somit bekämen sie eine weitere Arbeitskraft.) Weil auch die Mutter den Brief unterschreibt, liest man erstmals ihren Namen: Katharina.

[…] ich habe einen solchen Muth das ich nicht davon zu bringen bin […]

Im Jahr 1879 gingen zwischen Naters und der argentinischen Kolonie besonders viele Briefe hin und her. Vorhanden sind noch fünf oder sechs, aber da bei zweien die Monatsangabe, bei einem auch das Jahr fehlt, bleibt die Chronologie unsicher. Ich greife darum der Geschichte vor: Paul Eggel dürfte im Februar oder März 1880 ins Wallis zurückgekehrt sein. Wie sich in den letzten Briefen aus Naters zeigt, gibt es von einer Ausnahme abgesehen allerdings auch 1879 keine Anzeichen, dass Paul die Rückwanderung plant. (Einmal soll er geschrieben haben, er kehre erst dann zurück, wenn er das Reisegeld selbst verdient habe.) Der Vater reagiert unterschiedlich. Als er in im Brief vom Mai (vermutlich 1879) «gesehen habe, dass du schon andern Gedanken hast als zurückzukommen u deinen Eltern in ihren alten Tagen Hilfe u Trost zu leisten» lautet seine Reaktion: «Nun es ist einmal so, dass ich mich an meinen Kindern trompiert habe / selbes hätte ich schon längsten können sehen, aber den habe ich immer gedenkt es muss besser gehen, es muss besser gehen, aber was ist zu thun / ich mag denken ich sei selbst die Schuld weil ich nicht bessere Disziplin mit euch gehalten habe.» Was wie Resignation klingt, ist in Wahrheit eine implizite Beziehungsbotschaft: ‚Du bist ein missratener Sohn, wenn du nicht weisst, welche Verpflichtungen du den Eltern gegenüber hast.' Dem folgt eine moralische Zurechtweisung anderer Art. Dass er in San Geronimo Heiratsabsichten habe, könne man akzeptieren, «aber deine Base zu heurathen / selbes ist nicht glücklich so wie man hier sagt».18

Im undatierten Brief, aus dem ich bereits zitiert habe, zeigt er sich bezüglich Pauls Desinteresse an einer Rückkehr gelassener, so, als ob er sich damit abgefunden hätte. Gleichwohl sendet er weiterhin Lockrufe aus, im Sinne von: Du weisst gar nicht, was dir entgeht, wenn du in «Amerika» bleibst! Eggel hatte eine klare Vorstellung bezüglich einer künftigen Arbeitsteilung: «Da hättest du in der Buttig [gemeint ist der Krämerladen] kennen schaffen u ich mit Arbeitern auf dem Feld». Und da er auf Belalp ein Hotel bauen wolle, hätte Paul in Naters «kennen wirthen u krämern», während er die Bauarbeiten kontrolliere. Das Hotel, hält er ein weiteres Mal fest, werde das von Klingele weit übertreffen.

Das vom Briger Tourismus-Pionier Leopold Bürcher erbaute und 1858 eröffnete Hotel Belalp. In den 1860er-Jahren ging es in den Besitz von Gervas Klingele über. 1885 wurde eine Dépendance gebaut und so die Bettenzahl auf 70 erhöht. Baufällig geworden, wurde diese 1999 abgerissen. – Die Gäste kamen in den Anfängen hauptsächlich aus England. Für sie liess Klingele 1883/84 eine anglikanische Kapelle errichten. Seit 1993 gehört das Hotel der Burgerschaft Naters. (Quelle: Burgerschaft Naters.)

Wie Hotelgäste auf Tragstühlen transportiert wurden. (Quelle: Burgergemeinde Naters.)
Wie Hotelgäste auf Tragstühlen transportiert wurden. (Quelle: Burgergemeinde Naters.)

An einer anderen Stelle betont er, dass er in Naters nun in einer Position sei, aus der heraus er und Paul, falls er doch heimkomme, den wirtschaftlichen Erfolg einheimsen könnten. Im gleichen Atemzug kommentiert er Pauls Bemühen, sich im Orgelspiel zu üben: «Die Orgel zu schlagen wird dich nicht viel mehr nützen.»

Ein Teil des Briefes sei hier wiedergegeben:

Naters, den […] 187919

Liebwerthes Kind!

[…]

ich habe dir das letzte Mal alles geschrieben was sich seither in unserer Haushaltung zugetragen hat, das der Grossvater gestorben sei u wir unser Vermögen in Boden erhalten haben, wiewohl sie die Vertheilung umstürtzen wollen, weil das Lehni darein kommen will u der Salzmann mächtig daran arbeitet. Ich habe dir auch geschrieben wie es mit dem Hottall auf Bellalp ist das ich gewiss bauen werde u Unterstützung gute genug habe, welche ich dir aber erst später sagen werde. Ich sage dir wie ich das letzte Mal geschrieben habe / ich habe einen solchen Muth das ich nicht davon zu bringen bin u kann es auch nicht weil es jetz eine Zeit ist die man muss benutzen, Herr Klingele wird dieses Jahr das Haus müssen verkaufen u habe von meinen Kameraden den Auftrag es […] für 15000020 Franken abzumachen, er sieht es [dass es] bös

geht mit ihm, er ist alle Tage besoffen. […] Unlängst kam er mit Dindel in Streit u sagte ihm Schweinehund u Lügner worauf ihm Herr Dindel sagt, er werde ihm alle Reisende abhalten u sobald der Eggel hinauf komme für den [werde er] noch mehr thun als das er für Herr Klingele gethan habe / es sei recht / Herr Klingele u Salzmann habe den Eggel von Blatten gejagt u jetz jage der Eggel den Klingele von der Bellalpe. Alle Reisenden sehen / [dass es] oben so schön sei wie nirgends, das ist gewiss / das dort Geld zu machen ist, also sage ich nocheinmal wie im letzten Brief mit dem muss ich u will ich vorwärts, willst du zurück kommen u uns helfen jetz u im Alter freut es uns, willst du aber lieber dort bleiben so ist das deine Sache. Für die Feldarbeit zu machen ist der Johan / der mag so schaffen u wenn das Mari im Herbst heurathet so gibt’s da wieder einer. […]

Eines musst du mir dort besorgen, wir werden gewiss die Korektion bekommen nachher gibt’s viel Grund, da musst du mit dem Etter Jossen, Kasper u Josi u mit Eggel Joh. abmachen; dass sie mir alles u jedes im Schodamsand […] / woran sie Antheil haben mir Abtrethen; das muss so geschrieben sein.

Ich zu Endes unterzeichneter Johannes Eggel Sohn Moritz in Südamerika bescheine hiedurch, dass ich dem Anton Eggel in Naters in Europa in der Schweiz Wallis alle u jede gemeine Rechtinen, welche ich in Naters noch habe möchte im Schodamsand u anderstwo verkauft u abgetreten habe, so das er es für sein Eigenthum ansehen u benutzen kann. Südamerika in der Colonie Gieronimo den … Das muss den der Etter Joh. machen.

Ich denke es werde nicht viel nützen allen Herr so zu schreiben aber alle lasse grüssen, der Joh. Eggel der Bruder Kasper / Doch dem will ich ein Briefchen schreiben. […] Bis das ich Antwort auf diesen Brief habe von dir, gebe ich das Salz und die Werthschrift hier in Naters nicht ab / ob du zurück kommen wollest oder nicht; kommst du so würde man hier viel kennen machen den müsste ja alles Getreide u alles Material von unserm Haus ausgehen auf Bellalp; willst du aber dort bleiben das ist deine Sache / ich will dir noch wehren noch rathen wie ich u die Mutter sind weisst / […]

Nun will ich mein Schreiben enden u hoffen dieser Brief werde dich in guter Gesundheit antreffen.

Deine getreue Natezer Mutter [und ich lassen] alle grüssen.

Ant. Eggel

Auch dieser Brief lässt bezüglich Klarheit einiges zu wünschen übrig, die zentralen Sachbotschaften jedoch sind klar. Anton Eggel sieht sich, was Landbesitz und Hotelprojekt betrifft, kurz vor dem Ziel. Trotz Salzmanns Störmanöver, mithilfe einer Heirat die eingefädelten Erbschaften umzustürzen, sei alles Land im Gebiet Boden nun sein Eigentum.21 Da offenbar eine Kor[r]ektion, d.h. eine Güterregulierung bevorsteht, will er die Gelegenheit nützen, den Besitz ein weiteres Mal auszudehnen und wohl auch zu arrondieren. Dafür brauche er von den vier Geschwistern, die in der Kolonie leben, die Bestätigung, dass sie sämtliche ihrer «im Schodamsand» noch verbliebenen Landanteile ihm abgetreten respektive verkauft hätten, er sie folglich als Eigentum «ansehen u benutzen» könne. Unterschreiben müssten «Kasper u Josi», Johannes und «Etter Jossen», der Ehemann einer Schwester.

Für den Text liefert Eggel die Vorlage. Paul solle sie (dem ältesten Bruder) Johannes übergeben, so dass dieser sie abschreibe, unterschreibe und dasselbe die beiden anderen Brüder sowie den Schwager tun lasse. Dass Eggel nicht mit einem der Brüder selbst Kontakt aufnimmt und stattdessen Paul als Bote zu ihnen schickt, verstärkt den Eindruck eines nicht ganz einwandfreien Vorgehens. In aller Regel verkauften die Walliser Auswanderer vor dem Wegzug Land, Gebäude und Fahrhabe. Auch, um mit dem Erlös die Migration zu finanzieren. Wenn sie später über Erbschaften erneut zu Besitz kamen, wurde dies rechtlich über die Waisenämter abgewickelt. Hier scheint alles ein wenig anders zu sein. Anton Eggel setzt seine Interessen durch, ohne sich im Vorfeld mit den Betroffenen abzusprechen. Er stützt sich höchstwahrscheinlich auf seine auch von den Geschwistern unbestrittene Autorität. Was es mit den Landrechten genau auf sich hat, lässt sich den Briefen nicht entnehmen. Denkbar ist, dass die vier Geschwister bei der Auswanderung ihr Land dem Bruder zur Nutzung überlassen haben, ihm dieses jetzt aber (vermutlich entschädigungslos) abtreten sollen. Wie die Betroffenen reagierten ist nicht bekannt. Nach Pauls Rückkehr endet der Briefwechsel. Nachforschungen in den Grundbüchern könnten Antworten liefern.

Im Brief fallen zwei weitere Aussagen auf; die eine: «ich habe einen solchen Muth das ich nicht davon zu bringen bin» - die andere: «mit dem muss ich u will ich vorwärts». Eggel brennt richtiggehend darauf, auf Belalp mit dem Bauen zu beginnen. Seiner Darstellung gemäss haben sich alle Vorhaben in einer Weise zu seinen Gunsten entwickelt, dass er sich nicht mehr stoppen lassen will. Er behauptet, dem künftigen Konkurrenten resp. Widersacher Klingele gehe es miserabel; er sei alkoholkrank und gastronomisch am Ende. Was bisher erst spürbar war, tritt jetzt offen zutage: der Gedanke, sich für ein vermeintliches Unrecht zu rächen. Er sei einst von Klingele und Salzmann «vom Blatten22 gejagt» worden «u jetz jage der Eggel den Klingele von der Bellalpe». Das legt er einem «Herr Dindel» in den Mund und versucht so, die persönlichen Ziele zu objektivieren. (Dindel ist offenbar jemand, der den Hoteliers Touristen vermittelt.)

Der Herr Seiler, Catrain u Klausen

Mit der Bemerkung, er sei von seinen Kameraden beauftragt, Klingeles Hotel zu kaufen, werden die bisherigen Äusserungen plötzlich, aber nicht unerwartet in ein neues Licht gerückt. Anton Eggel ist nicht der Käufer, sondern vielmehr eine Art Strohmann bisher anonymer Männer. Wer sie sind, ist noch offen, aber die Vermutung liegt nahe, dass er diese Rolle auch beim Hotelneubau auf Belalp spielt. Entsprechende Unterstützung deutet er an. Textpassagen in einem weiteren ungenau datierten Brief aus dem Jahr 1879 liefern die Bestätigung:

Ganz im Verborgenen will ich dir sagen, wer zu mir steht auf der Bellalpe u du kannst es dem Herrn Etter Josef auch im verborgenen sagen, weil er es so wünscht.

Der Herr Seiler, Catrain u Klausen in Brig haben mir den Antrag gemacht, ich solle trachten auf Bellalp Boden zu bekommen, das wollen wir zusammen stehen u dem Herrn Klingele u Hansmartin Salzmann auf Blatten schon zeigen was heisst einen von Haus und Land stossen. Dieses sage aber andern nicht. […]

Am Schluss des Briefes:

N.B. Du verstehst ja wohl das den die Herrn alles regieren u uns leiten / Der Seiler sagt er wolle den [dann] Leuten genug auf Bellap schicken aber er müsse mich haben weil ich Burger bin u alles billiger von der Gemeinde haben kann u für Geld werde er schon sorgen. Jetzt weist du alles.

Nun wird klar, weshalb er im Kontext des Belalp-Projekts jeweils betont, die Sache müsste vorläufig geheim bleiben. Emil Cathrein (1847-1916) war ein Tourismuspionier in der Aletschregion. Seine Schwester war seit 1857 mit dem Hotelkönig Alexander Seiler (1819-1891) verheiratet. Cathrein selbst wurde 1895 als Hoteldirektor nach Kapstadt und Johannesburg berufen. Über Klausen, den Dritten im Bund, fehlen mir Informationen. – Die Herren Salzmann und Klingele scheinen in Blatten mit Eggel einen Streit ausgefochten und vermutlich vor Gericht gewonnen zu haben. Das kann für Eggel das Motiv gewesen sein, sich den Hotelpionieren als Mittelsmann zur Verfügung zu stellen. Als langjähriger Gemeindepräsident von Naters, zu dessen Gemeindegebiet mit Belalp ein touristisch entwicklungsfähiges Juwel gehört, verfügt er über entsprechende Kontakte. Darüber, warum er sich gegenüber dem Sohn und dem Bruder bis zu den eben zitierten Textstellen als künftiger Bauherr auf Belalp ausgibt, lässt sich nur spekulieren. Man ist zwar versucht, ihm eine gewisse Hochstapelei zu unterstellen, aber das wäre insofern übertrieben, als nicht feststeht, wer das Hotel-Projekt initiiert hat. Wahrscheinlich waren das die genannten Hotelinvestoren, die über den einflussreichen Anton Eggel (eben noch Gemeindepräsident) sowohl Bauland als auch Baumaterial günstig erwerben wollen. Kommt dazu, dass über Eggels Geschäftstüchtigkeit kaum Zweifel bestehen und er überdies von Kindsbeinen an mit dem Gastgewerbe vertraut ist. Schon seine Eltern betrieben das Wirtshaus in Naters. Die Geldgeber würden zwar im Hintergrund «alles regieren u uns leiten», Eggel aber vermutlich als Hotelier installieren.

Was ist bezüglich der getätigten und geplanten Investitionen auf Belalp noch zu berichten? Vor allem dies, dass da oben neben dem Hotel Belalp weder zu dieser noch zu einer späteren Zeit ein weiteres Hotel gebaut wurde und dass Gervas Klingele in der Zeit von 1879/80 und danach keineswegs vor dem Ende seines Hotelier-Daseins stand. Das Hotel Belalp blieb während dreier Generationen im Besitz der Familie Klingele. 1968 übernahm es die Familie Jaeger-Eggel, und seit 1993 gehört es der Burgerschaft Naters, die es im Jahr 2019 sanieren liess.

Hotel Belalp heute. (Quelle: Burgergemeinde Naters.)
Hotel Belalp heute. (Quelle: Burgergemeinde Naters.)
Aletschgletscher um 1885, vom Hotel Belalp aus gesehen. (Quelle: Burgergemeinde Naters.)
Aletschgletscher um 1885, vom Hotel Belalp aus gesehen. (Quelle: Burgergemeinde Naters.)

.., dass ein magerer Vergleich mehr werth ist, als ein fetter Prozess

Zum Abschluss nun die beiden von Josef Eggel in San Geronimo verfassten Briefe an den Bruder und an den Neffen. Der eine entstand wenige Monate, nachdem Paul die Kolonie verlassen hatte, um ins Wallis zurückzukehren, der andere neun Monate später. Wie die zwei Texte ins Archiv von José Luis Eggel in San Jerónimo Norte gelangt sind, ist, wie schon vermerkt, ungeklärt. Für die hier erzählte Geschichte sind sie ein Glücksfall. Sie entsprechen einem Perspektivenwechsel, so dass wir zentrale Sachverhalte aus der Sicht des Kolonisten bewertet sehen. Josef verfügt sowohl über die sprachliche Kompetenz als auch über das notwendige Selbstwertgefühl, um dem geschäftstüchtigen Bruder in Naters einen Spiegel vorzuhalten. Die Texte kommentieren in gewissem Sinn die Briefe, die Anton Eggel in den vergangenen drei Jahren Paul und Josef geschrieben hat. Hier nun der nur wenig gekürzte Brief an den Bruder:

Colonia San Geronimo Provincia de Santa Fé Republica Argentina Maijo 28 de 1880

Lieber Bruder Anton!

Am 24 ten dieses habe ich deinen werthen Brief vom 3ten April letzthin mit grosser Freude erhalten. Es soll daher auch nicht lange gezögert werden um dir denselben zu beantworten u das umso mehr weil ich u dein Paul so miteinander bei unserer Trennung sind verblieben worden. Wie oft war ich gespannt u neugierig zu wissen, wie ihm seine beschwerliche Rückreise nach der alten Heimath möchte ausgefallen sein, bis ich endlich durch deinen Brief Auskunft bekommen habe. Es freut mich sehr, dass er eine glückliche Ueberfahrt hat machen können u dass Sie ihn jetzt wiederum in Ihrer Mitte haben, obschon wir es fühlen müssen seiner Gegenwarth beraubt zu sein. Seit seiner Abreise ist sicher kein einziger Tag versstrichen, wo wir an ihn nicht gedacht haben, und ganz besonders meine Kinder. Nun mögen auf dieser Welt alle Freuden u alle Leiden so gross sein, wie sie wollen, so muss man doch nie vergessen, dass sie Alle ein Ende nehmen u dass in der anderen Welt auf uns, entweder ein immerwährendes Glück oder Unglück wartet, je nachdem unser Leben ist. Daher wäre es am Platz, wenn man hier u da in Betracht zöge, dass ein magerer Vergleich mehr werth ist, als ein fetter Prozess. Bei diesem Gleichniss fällt mir gerade dein Brief ein, welchen du unlängst an unsern Schw. Kasp. Jossen übersendet hast. Derselbe setzte uns in Kenntniss über den Rechtshande(l), der für dich abermals gut ausgefallen sei u über den Bau eines Gasthofes auf der Bellalpe, den du jetzt im Begriffe seist anzufangen.

Ob dieser Plan reichlich überlegt ist, das wird die Erfahrung wohl am besten zeigen. Sehr oft ist es rathsam, wie man die Worte erwählt: traun, schaun wem. Diese kleine Bemerkung füge ich nur desshalb bei, weil dein Glück u Unglück auf mich den gleichen Effekt macht, als wie jede andere (Sa)che auf den, der es mit seinem Bruder redlich meint. Nach meinem Dafürhalten solltest du deinen väterlichen Pflichten wohl nachgekommen sein, ohne dich in deinem Alter noch mehr zu sorgen, oder wofür wäre alles das schöne Vermögen dessen rechtmässer Besitzer du jetzt bist gekommen! Man kann doch das Wort bei dir in Anwendung bringen: dass brave Söhne die Ehre ihres Vaters u keusche Töchter der Schmuk ihrer Mutter sind. Diesen Beweis hat dir dein Paul schwarz auf weis aus Amerika gebracht, was nach meiner Ansicht wohl mehr werh ist, als wenn er verkommen wie so viele Andere, aus seiner Fremde wiedergekehrt wäre u dabei meinetwegen Etwas gebrochen französisch oder englisch etc. spräche.

Du kannst daher Gott danken, so wie dein Weib, nebst all den Kindern, dass sie so zu sagen bald den grossen Gefahren der Jugendjahren entgangen sind u ich zittre, wenn ich bedenke, dass die Meinen an der Schwelle der selben sind, Daher kann ich nicht umhin mich an Sie zu wenden, damit wir gegenseitig unser Herz zu dem richten, der ewig weit höher über der schönen Bellalpe wohnt.

Ueberdies danke ich Euch Allen für sämtliche Dienste die Sie mir bis dahin geleistet haben u will einige Kleinigkeiten in dem beigelegten Briefchen23, welches ich für den Paul schreibe / anmelden.

[…]

Herzlich grüsst Euch

Bruder Jos. Eggel

Zu diesem Brief braucht es weder Erläuterungen noch einen Kommentar. Darum hier gleich der letzte (ebenfalls leicht gekürzte) Brief an Paul:

Col. San Geronimo Provincia Sant. Fé Republice Argentina

Febrero 22 de 1881

Vielgeliebter Neffe Paul

Bald ist ein Jahr verstrichen, dass wir unferheisen [unverhofft] […] wohl für immer hier auf der Welt von einander werden Abschied genommen haben. Nicht umso weniger habe ich mir nach Verlaufe einiger Monaten die Mühe genommen u dir einen Brief / welcher sehr viel Neuigkeiten enthalten hat / nachgeschickt; ja es wurde nebenbei darin deinen Wünschen gemäss bezeichnet, dass du von mir 80 Franken an Geld erhalten hast. Davon sind 20 an deinen Vater zu übergeben weil nach meinem Dafürhalten bei uns [gemäss der] letzten Abrechnung die 17 Franken, welche er für mich an Feligs Walther bezahlt hat, die nicht sind zu Gute gekommen / die 3 Franken könne[n] angesehen werden als Zins. Uebrigens wäre diese nachmalige Bemerkung nicht nöthig, wenn man nicht schliessen sollte, dass wegen der Aufruhr der Bundes-Präsidenttenwahl von Buenos Aires dir mein Schreiben sei unterschlagen worden.

Es bleibt gewiss ausser Zweifel, dass du dein Versprechen nicht treu hieltest u mich so lange auf eine Antwort warten liessest […] sonst hättest du mir die vier Flaschen Oel auch nicht geschickt welche nun […] Tage vor Allerheiligen der Johan Jos. Imhoff […] [mir] treulich eingehändigt hat. Etwas auffallend war jedoch, dass man diese gute Gelegenheit so durch den H. Schalbetter hat vorbringen lassen, ohne dabei etwa noch ein Briefchen beizubringen. Aber wenn du auf Alles eingehen solltest oder halten, was man hier u da im Scherze verspricht, so kämest du mit deinen Comissionen nicht zum Ende u müsstest meinem Weibe noch die Apfelkernen schicken, du weisst es ja ganz gut, sie ist aus Goms. Doch kann ich nicht umhin dich zu bitten, mir das Schifflein für die Nähe[ma]schinn womöglich baldigst zu übersenden, weil […] dieser Artikel hier noch nicht zu holen ist. […]

Aber dann auch Gott sei dank! nicht nur das, sondern Kraft reichlicher Beiträge von gutgesinnten Colonisten ist zu unsrer Freude vom hiesigen Reichtum uns am ersten Febr. Abend des Maria Lichtmess mit harmonischem Klang dreier Glocken angekündet worden. Die Festfeier an diesem Mutter Gottes Tage, war nicht weniger als feierlich, die Messe wurde fürstlich celebriert und der Musiklehrer von den Jesuiten in Santa Fé übernahm die Orgel. Nun ich will doch aufhören mit meinem Schreiben u keinen von Ihnen zu langweilen, da ich ja voraussetze, dass man eben so wenig Zeit haben wird, viele Neuigkeiten zu lesen als solche zu schreiben. Ueberhaupt, falls Sie sich wegen zeitlichen Geschäften nicht zu sehr verhindert sehen, mir schreiben zu können, so will ich auch trachten, dass meine künftigen Briefe, welche ich an Sie richte den Ihrigen an Kürze u Ausführlichkeit gleich kommen. Zum Schluss grüssen wir Euch Alle herzlich / Etwa vor drei Wochen hat der Schw. Moritz Jossen von Ihnen einen Brief erhalten, daraus hat er entnommen, dass Sie mir auch gleichzeitig einen geschrieben haben; bis dahin habe ich Nichts erhalten. Jos. Eggel

Das zweite Schreiben enthält eine Vielzahl von Informationen über das Geschehen in SJN seit Pauls Abreise. Von zahlreichen Todesfällen ist ebenso die Rede wie von neuen Ehen. Auch von einer ziemlich guten Ernte. Die eigentlichen Botschaften indessen sind andere. Der Bericht über die Festfeier von Maria Lichtmess illustriert die Freude über das wirtschaftliche und kulturelle Gedeihen in der Kolonie. Vom «hiesigen Reichtum» zeuge, dass das Fest «mit harmonischem Klang dreier Glocken angekündigt worden» sei. Diese habe man «reichlichen Beiträgen von gutgesinnten Colonisten» zu verdanken. Die Orgel, wird Paul an seine eigenen Erfahrungen und Absichten erinnert, habe der Musiklehrer der Jesuiten in Santa Fe übernommen. – Das zentrale Thema ist die Enttäuschung darüber, dass Paul ihn die ganze Zeit über ohne Nachricht gelassen hat. Nicht so sehr, weil er ihm für die Rückreise mit 80 Franken ausgeholfen hat (was zu dieser Zeit im Wallis immerhin dem Jahreslohn eines Primarlehrers entsprach), sondern vielmehr, weil seine Briefe bisher ohne Antwort geblieben sind. Dabei habe Paul ihm durch Johann Josef Imhoff24 «vier Flaschen Oel» zukommen lassen. Die seien ihm «treulich eingehändigt» worden. Eine grössere Freude hätte er ihm jedoch mit einem Brief gemacht. Demgegenüber habe der Schwager Moritz Jossen kürzlich von ihm einen Brief erhalten. Die Zuversicht, «dass Sie mir auch gleichzeitig einen geschrieben haben», hat sich als Täuschung herausgestellt: «bis dahin habe ich Nichts erhalten». Hier endet der Brief abrupt. Das zeigt, wie gross Josef Eggels Enttäuschung ist.

Die Erzählung über das soziale Leben in San Jerónimo drückt auch das Bedauern darüber aus, dass Paul nicht mehr darin eingebettet ist. Im Brief an den Bruder hat Josef explizit ausgeführt, wie sehr er das auf Macht, Wohlstand und Sozialprestige ausgerichtete Leben des Bruders missbilligt. Da er die Bedürfnisse des Neffen kennt oder zu kennen glaubt, betrachtet er dessen Rückkehr ins Wallis als Fehlentscheid. Und sein eigenes Bemühen, Paul eine lebensfrohe Zukunft zu ermöglichen, als gescheitert.

Warum Paul Eggel seinem Mentor vier Flaschen Öl, aber keinen Brief überbringen lässt, während er dem Ehemann seiner Tante schreibt, ist schwer zu verstehen. Umso weniger, als Josef Eggels Familie Paul während seiner Zeit in San Geronimo lebhaftes Interesse entgegengebraucht, ja, ihn geradezu liebgewonnen hat. Alle, auch die Kinder schmerzte es, als er von ihnen Abschied nahm.

Von Ignaz Eggel aus Naters, dem Ururenkel von Anton Eggel, habe ich die Familienstammbäume von Antons Vater Josef (1792-1867), von Anton Eggel (1826-1909) sowie von Paul bekommen. Pauls Stammbaum zeigt, dass er 1881 die ein Jahr jüngere Clara Bammatter heiratete. Die Liebesbeziehung muss kurz nach der Rückkehr angefangen haben. Vermutlich steckten Paul und Clara zu der Zeit, als Josef Eggel auf einen Brief aus dem Wallis wartete, bereits in den Hochzeitsvorbereitungen. Dies dem Onkel mitzuteilen, war womöglich auch deshalb schwierig, weil er in der Kolonie in so engem Kontakt zu einer Base stand, dass er den Vater über die kommende Heirat informierte.

Das alles mag erklären, warum er dem Onkel nicht zurückschrieb. Etwas zugespitzt lässt sich der Abschied von San Geronimo als Verrat am persönlichen Lebensentwurf verstehen. Wie aus den Briefen hervorgeht, ähnelte Pauls Wertehaltung stärker derjenigen des Onkels als der des Vaters. Wenn er sich nun, wie anzunehmen ist, in Naters in dessen Unternehmen einspannen liess und zum Beispiel, wie ihm angeboten worden war, das Wirtshaus und den Krämerladen führte, machte er damit etwas, wovor er 1877 emigrierend Reissaus genommen hatte. Wie wenig das ihm entsprochen haben dürfte, erkennt man unter anderem am Gegensatz zwischen Pauls Freude am Orgelspiel und den materialistischen Ambitionen des Vaters.

Wie dem auch immer gewesen sein mag, was für Paul tatsächlich den Ausschlag gab, von der Familie des Onkels Abschied zu nehmen, darüber kann trotz des klaren Kontexts nur spekuliert werden. Ein Grund könnte im Übrigen auch Pauls fragile Gesundheit gewesen sein. Wir wissen, dass er deswegen in Santa Fe die Stelle als Hilfskoch aufgeben musste. Das lässt den Schluss zu, dass ihn Arbeiten, wie sie in der Kolonie zu leisten waren, physisch überfordert hätten. Andeutungsweise lässt sich dies bereits den Briefen des Vaters entnehmen. Es heisst darin, wie gut seine zwei Brüder für körperliche Tätigkeiten taugten, wohingegen Pauls Fähigkeiten sich besser für die Arbeit «in der Buttig» eigneten. Auch wenn der Vater diese Ansicht mit Pauls besserer Bildung erklärt, dürften auch körperliche Defizite diese Ansicht beeinflusst haben.

Was im Übrigen Pauls Heirat mit Clara Bammatter betrifft, so sind weitere Fakten dazu nicht bekannt. Der Stammbaum zeigt, dass im Jahr nach der Heirat als erste Kind Pulcherina zur Welt kam. Zu diesem Zeitpunkt waren die Eltern 25- bzw. 26-jährig. In den kommenden vier Jahren gebar Clara noch ein Mädchen und zwei Buben, zehn Jahre später mit Cäsarina noch ein drittes Mädchen. Am 26. Juli 1898, 20 Monate danach, starb Paul Eggel im 42. Altersjahr. Auch Clara war kein langes Leben beschieden; sie verstarb 51-jährig im Januar 1908. Von den Kindern erreichten nur die älteste und die jüngste Tochter ein hohes Alter; Pulcherina wurde 81, Cäsarine 71. Nachkommen des Ehepaars Clara und Paul Eggel-Bammatter sind zwei in den 1950ern geborene Urenkel. Eventuell lässt sich künftig über sie etwas darüber erfahren, welcher Erwerbstätigkeit ihr Urgrossvaters in Naters nachging und welches die Gründe waren für den frühen Tod der Urgrosseltern.


  1. Beide führen im Ort ein eigenes Geschäft, Oggier als Elektroinstallateur, Zurschmitten als Möbelschreiner mit 40 Angestellte und einer Filiale in Rosario. ↩︎

  2. Eine gewisse Ironie war schon dabei, war die Auswanderung ihrer Vorfahren damals auch auf die Überbevölkerung des bäuerlichen Wallis zurückzuführen. ↩︎

  3. Der Reiseblog von damals ist immer noch online (vueltaargentina.blogspot.com). ↩︎

  4. Näheres dazu im Kapitel «Die sozio-ökonomische Situation in den Provinzen Santa F und Entre Rios vor dem Immigration mitteleuropäischer Siedler». [für Zeno: Kannst du einen Link dorthin machen?] ↩︎

  5. Ob sie heute (2025) noch leben, weiss ich nicht. ↩︎

  6. Ausser in Zitaten benutze ich die heutige Schreibweise, Josef statt Joseph. ↩︎

  7. Quelle: Zivilstandsamt der Gemeinde Brig. ↩︎

  8. «Etter» ist der Walliser Ausdruck für Onkel. ↩︎

  9. Diese Informationen erhielt ich von Ignaz Eggel aus Naters, einem Ururenkel von Pauls Vater Anton. ↩︎

  10. Gemäss Zivilstandsamt Brig hatten Anton und Katharina Eggel sechs Kinder. (In den Briefen werden nur vier Kinder genannt.) ↩︎

  11. Belalp liegt 700 m höher als Blatten, auf gut 2'000 m ü. M. Das Hotel Belalp gehörte Gervas Klingele ↩︎

  12. Blatten ist ein auf 1'300 m ü. M. gelegener Weiler in der Gemeinde Naters; er liegt etwa auf halber Strecke nach Belalp. Von Blatten aus fahren heute eine Gondel- und eine Pendelbahn nach Belalp. ↩︎

  13. Wo Satzzeichen, werden sie von mir gesetzt, um das Verstehen zu erleichtern. Grammatische Fehler werden jedoch nicht korrigiert. ↩︎

  14. Am 15. Juni 1878 fand in Brig die Einweihung der Bahnlinie statt. Das heutige Bahnhofgebäude ist der 1905 eröffnete Nachbau. Er steht höher als das erste Gebäude. Beim Bau des Simplontunnels wurde mit einem Teil des Ausbruchmaterials das Gelände angehoben. ↩︎

  15. Gemäss seinem Ururenkel Ignaz Eggel gehörte zu Anton Eggels Betätigungsfeldern auch das Steinmetz-Gewerbe. ↩︎

  16. An einigen Stellen sind Schrägstriche gesetzt. Sie sollen das Lesen erleichtern, aber nicht alle fehlenden Kommas ersetzen. ↩︎

  17. Im Wallis Bezeichnung für die Kantonsregierung bzw. für einzelne Regierungsräte. ↩︎

  18. Eheschliessungen zwischen Cousins und Cousinen wurden damals in der Schweiz von der Kirche auf entsprechende Gesuche hin bewilligt. ↩︎

  19. Da die kommende Kartoffelernte angesprochen wird, dürfte der Brief im Spätsommer geschrieben worden sein. ↩︎

  20. Es dürfte hier eine Null zu viel stehen. Auch 15'000 Franken sind damals ein hoher Preis für eine Immobilie. ↩︎

  21. Der Flurname Boden wird als «Bodu» bezeichnet. Er bezeichnet (heute weitgehend überbaute) Landparzellen am östlichen Rand von Naters. ↩︎

  22. Siehe Fussnote 12. ↩︎

  23. Leider ist dieser Text nicht erhalten geblieben. ↩︎

  24. Es handelt sich möglicherweise um einen Kolonisten, der auf Kurzbesuch im Wallis war und dem man, wie damals üblich, gewisse Gegenstände sowie Briefe an Verwandte in Argentinien mitgab. ↩︎