Das Leben als Achterbahn
Die Geschichten von Isabella Theler und deren Nachkommen (1914 bis 2022)
Isabella, die jüngste Tochter des Ehepaars Theler-Salzgeber, kam 1914 in Naters zur Welt, fünf Jahre nach der zweitjüngsten Luzia. Nach Regina, Mathilda und dem früh verstorbenen Meinrad, die vor der 1. Auswanderung geboren wurden, war Isabella das vierte Kind, das im Wallis zur Welt kam. Als ihre Mutter im Herbst 1922 mit ihr und einigen ihrer Geschwister dem Ehemann nach Misiones folgte, war sie achtjährig.1 In der Folge erhielt sie genauso wie ihre zehn Schwestern bloss eine Grundschulbildung (im Unterschied zu zwei Brüdern, derentwegen die Familie 1910 ins Wallis zurückgekehrt war); sie wurde aber schon als Mädchen zur wichtigen Arbeitskraft. Dies besonders deshalb, weil die nächstälteren Schwestern den Hof verliessen (die einen verheirateten sich weg, eine andere lief weg) und sie nun als einzige dem Vater auf dem Hof zur Hand gehen konnte. Die Mutter war zu dieser Zeit gesundheitlich angeschlagen, da ihre Zuckerkrankheit bis anhin nicht diagnostiziert worden war.
Im hohen Alter beklagte sich Isabella einmal darüber, dass ihr die Bildung vorenthalten worden sei. Wenn sie noch einmal jung wäre, würde sie Geologie studieren und sich nicht in eine Handelsschule drängen lassen, sagte sie 1999 in einem Interview im Wallis anlässlich eines Familientreffens.2
Wie bereits erzählt, kehrte Isabella 1930 als Einzige mit den Eltern in die Schweiz zurück; gemeinsam mit ihnen wohnte sie in Zürich. Auch sie arbeitete (als Büroangestellte) im Importgeschäft der Schwester. Daneben besuchte sie eine italienische Handelsschule. Sie sprach Spanisch und Deutsch, war mit Deutsch als Schriftsprach jedoch wenig vertraut. Kam dazu, dass die Bonizzis Lebensmittel aus Italien importierten, im Büro also Italienischkenntnisse willkommen waren.
Darüber, wie Isabella die Zeit bis 1938 ausserhalb von Arbeit und Schule verbrachte, ist kaum etwas bekannt. Ausser der angesprochenen mündlichen Klage gibt es kein schriftliches Zeugnis von ihr. Der Vater schreibt in einem Nachtrag seiner Autobiografie nur: Isabel, die jüngste Tochter, ist nun 25 Jahre alt, und so konnte man ihr eine günstige Heiratsgelegenheit nicht verweigern. Plötzlich sind wir 2 Alten / Erzieher von 13 erwachsenen (...) Kindern verlassen. An dieser Verlassenheit sehnte ich mich so recht wieder nach dem Wallis.
Was ich weiter über sie berichten kann, entnehme ich den zahlreichen Gesprächen mit ihrer Tochter Gisela und deren Autobiografie «Memoria viva». (Die Geschichte ihrer Mutter, die der Schwester und ihre eigene wird aus dieser Perspektive erzählt.)
Isabella Theler heiratete im Jahr 1938 Hans Maciéczyk, den sie an einem Ball in Zürich kennengelernt hatte. (Die in Erlenbach eingebürgerte Familie polnischer Herkunft lebte seit Generationen in der Schweiz.). Er hatte an der ETH in Zürich Maschinenbau studiert. Sein Vater, ebenfalls Maschinenbauer, hatte in Bukarest eine Niederlassung von Sulzer aufgebaut und geleitet. Die Firma produzierte insbesondere Heizungen und Klimaanlagen. Das junge Ehepaar übersiedelte kurz vor dem Weltkrieg nach Bukarest, wo Hans Maciéczyk vom Vater die Leitung des Unternehmens übernahm. Ab Kriegsbeginn ging der Geschäftsgang zurück; trotzdem blieben sie bis 1944 in Bukarest.

Rumänien in den 1930er- und 40er-Jahren
Rumänien, das sich schon in den 30er-Jahren der NS-Ideologie angenähert hatte, wurde unter General Ion Antonescu zur faschistischen Militärdiktatur. Als Mitglied der Achsenmächte beteiligte sich das Land ab 1941 am deutschen Feldzug gegen die Sowjetunion. Zuvor verlorene Gebiete wurden wieder rumänisch. Unter dem Antonescu-Regime wurden Roma und Juden verfolgt und in grosser Zahl ermordet.
Die Offensive der Sowjetunion im August 1944 hatte den Sturz Antonescus und den Frontwechsel zur Folge. Nach dem Krieg bekam Rumänien Nordsiebenbürgen von Ungarn zurück, verlor aber viele Gebiete an die Sowjetunion. Der Hauptteil dieser Gebiete bildet heute die Republik Moldau, der Rest ist Teil der Ukraine.
(Quelle: Wikipedia.)
Isabella Maciéczyk-Theler gebar 1941 das erste Kind, Irene, drei Jahre später Gisela. Auch während des Krieges lebte die Familie in Bukarest in relativem Wohlstand; jedenfalls litten sie gemäss Tochter nicht unter dem Krieg. Auch ihre Wohnsituation sei komfortabel gewesen.
Gisela war noch keine drei Wochen alt, als die Russen in Rumänien einmarschierten. Als Chef eines Unternehmens, das unter der faschistischen Herrschaft zwar nicht floriert, aber produziert hatte, fürchtete sich Hans Maciéczyk vor der sowjetischen Besatzung. Er und seine Frau entschlossen sich zur Flucht. Alles zurücklassend, stiegen sie mit den Töchtern ins letzte Flugzeug, das Rumänien in Richtung Schweiz verliess. Aus unbekannten Gründen endete der Flug in Mailand. Vor der Weiterreise in die Schweiz verbrachten sie eine Nacht im Hotel. Kurz nachdem sie am Morgen ausgescheckt hatten, wurde das Hotel von einer Bombe getroffen und vollständig zerstört.3 (Wenn das Ehepaar mit den beiden Kleinkindern nicht schon zum Bahnhof unterwegs gewesen wären, gäbe es diese und die folgende Geschichte nicht. Das bisher Erzählte wäre nicht überliefert, und zur Fortsetzung wäre es nie gekommen.)
In Chiasso wurde ihnen die Einreise verweigert. Man hielt sie für jüdische Flüchtlinge. Sie wandten sich hilfesuchend an das Departement von Bundesrat Ernst Nobs – Isabellas Schwager Jakob und Ernst Nobs waren bekanntlich Brüder – erhielten aber von der offiziellen Schweiz keine Unterstützung. Der Grenzübertritt ins Tessin gelang endlich doch – aus dem simplen Grund, dass die Beamten in Theler einen urtümlichen Walliser Namen erkannten.
Auswanderung nach Argentinien
Die nächsten zwei Jahre arbeitete Maciéczyk weiterhin für Sulzer. Er und seine Frau waren mit der neuen Situation jedoch unzufrieden, auch weil sie im Unterschied zu Bukarest wenig komfortabel wohnten. Sie entschlossen sich auszuwandern, entweder nach Brasilien oder nach Argentinien. Warum die Wahl auf Argentinien fiel, erklärte Isabella im oben erwähnten Interview so: Mein Mann kam für die Firma Sauter in Basel nach Buenos Aires. Wir hatten die Wahl zwischen Rio und Buenos Aires. Da ich meine zwei Brüder in Buenos Aires hatte, haben wir Buenos Aires vorgezogen.
Tochter Gisela hat das Leben an der Küste im Stadtteil Olivos in besonderer Erinnerung. Das kleine Haus mit Garten und einer Menagerie von Tieren, darunter ein Nasenbär, sei für sie wie eine kleine Villa gewesen. Gemeinsam mit der Schwester erlebte sie da glückliche Kinderjahre. Hier entwickelte sich die bis heute andauernde enge Beziehung zu den Theler-Nachkommen, fanden sich im Haus doch regelmässig Verwandte aus Rosario und Misiones ein.
Das Verhältnis zur Mutter war für Gisela eher schwierig. Während sie die Beziehung zum Vater als gegenseitige innige Liebe beschreibt, sei sie von der Mutter ungemein streng erzogen worden. Zärtlich sei die Mutter zu ihr nie gewesen; Prügel habe sie von ihr dagegen öfters bezogen. Allerdings, räumt sie ein, sei sie ein ziemlich freches Kind gewesen.
Die fehlende Empathie der Mutter resultierte vermutlich aus deren Sozialisierung. Aber wie auch immer, abgesehen davon kümmerte sie sich intensiv um das Wohlergehen und die künftige Schulbildung der Töchter. So beschlossen sie und ihr Mann, möglichst nahe bei einer guten Schule ein Haus zu bauen. Sie kauften einen Bauplatz nahe an der Northlands School, einer international ausgerichteten konfessionsfreien Schule. Das Haus, gebaut nach Entwürfen des Vaters und nach Plänen von Isabellas Bruder Meinrad, konnten sie bereits 1952 beziehen. Während ihrer Schulzeit brauchten die Töchter jeweils erst loszurennen, wenn sie die Schulglocke läuten hörten.
Damals war der Name Perón landesweit allgegenwärtig. Auch in der Northlands School hingen Juans und Evitas Bilder in allen Schulzimmern. Die damalige Aufbruchsstimmung sei trotz Peróns spürbar diktatorischem Geist besonders von den aus Europa zugewanderten Eltern positiv aufgenommen worden, schreibt Isabellas Tochter im Rückblick.
Nach einer illustren militärischen und politischen Karriere wurde Juan Domingo Perón 1946 zum Staatspräsidenten gewählt und 1951 mit 62 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. (Initiiert durch seine Frau Evita, der ehemaligen Schauspielerin, konnten erstmal auch die Frauen wählen.) In Argentinien herrschte Aufbruchsstimmung. Durch weitere Verstaatlichungen (u.a. der Eisenbahnen)4 sollte der Staat gestärkt werden. Weiter vorangetrieben wurde auch die Industrialisierung und der Ausbau der Sozialpolitik. Dies alles geschah auf Kosten der finanziellen Ressourcen; was hohe Inflation und wachsende Spannungen mit den Grossgrundbesitzern zur Folge hatte. Überdies schwächte der Tod von Evita Perón 1952 – sie starb im Alter von 33 Jahren an Krebs – die politische Stellung des Präsidenten.
Da unter Juan Perón Scheidung und Prostitution legalisiert, der Religionsunterricht an Schulen abgeschafft wurde und aussereheliche Kinder den ehelichen gleichstellt wurden, eskalierte auch der Konflikt mit der katholischen Kirche. Im Juni 1955 wurde Perón vom Papst exkommuniziert. (Der Bann wurde acht Jahre später aufgehoben.) Darauf kam es im September des gleichen Jahres zum Militärputsch und damit zu Peróns Sturz. Es folgte sein 18-jähriges Exil in Spanien.
1973 kehrte Perón nach Argentinien zurück, wurde im Oktober zum dritten Mal Staatspräsident, erlag aber am 1. Juli 1974 einem Herzinfarkt. Seine zweite Frau Isabel Martinez de Perón wurde seine Nachfolgerin und so die erste Staatspräsidentin Südamerikas. Zwei Jahre Später wurde ihre Regierung wiederum durch einen Militärputsch gestürzt.
Während einer Kinderlähmungs-Epidemie (1953) verliessen zahlreiche wohlhabende Argentinier die Hauptstadt. Auch Irenes und Giselas Eltern: Sie zogen zu einer befreundeten Familie aufs Land. Ihre jüngere Tochter erlebte diese Zeit intensiv; damals sei ihre Liebe zum Land erwacht. Noch heute, erzählt sie, könne sie Tiergerüche voneinander unterscheiden.
Die religiöse Unterweisung erlebten die Kinder als überaus rigoros. So habe der Pfarrer behauptet, wer an Karfreitag nicht zur Kirche gehe, komme in die Hölle. Statt Liebe zu vermitteln, schreibt Gisela Maciéczyk-Theler, habe man den Kindern Schuldbewusstsein eingeimpft. Die Weihnachtsfeste dagegen habe sie in schöner Erinnerung; nur deswegen habe sie sich später mit der Religion versöhnt.
Irene und Gisela erhielten eine um vieles bessere schulische Bildung als ihre Mutter, aber Gisi5 betont im Gespräch, für Mädchen und junge Frauen sei die Bildung darauf ausgerichtet gewesen, ihnen den Stil der gehobenen argentinischen Gesellschaft zu vermitteln; später sollten sie besonders als Gesellschafterinnen eine gute Figur machen. Zudem kam ihre Schulbildung im Teenageralter ins Stocken. Ihre Schwester ging mit 19 nach Italien, wo sie sich zur Keramikerin ausbilden und so ihr künstlerisches Talent entwickeln wollte. Allein zurückzubleiben war für die Jüngere weniger erfreulich. Das hing auch mit ihrer inneren Rebellion zusammen, die ein Vorfall ausgelöst hatte, als sie 14 war.

Dazu eine kurze Rückblende mit Blick auf die gesundheitliche und berufliche Geschichte des Vaters. Hans Maciéczyk erlitt 1954 einen Herzinfarkt, erholte sich davon zwar gut, wechselte aber zu einer weniger anspruchsvollen Arbeit in einer Firma, für die er als Stahlverkäufer tätig war. Auf den Reisen lernte er einen deutschen Ingenieur kennen. Zwischen den Familien entwickelte sich eine Freundschaft, die umso intensiver war, als sie sich beide für bildende Kunst und Musik interessierten. Der Deutsche stammte aus einer Hamburger Familie, die Gemälde aus dem 16. Jahrhundert sammelte. Auch er war Sammler, insbesondere von Porzellan und Kochbüchern aus dem 18. Jahrhundert. Es kam zu gegenseitigen Einladungen. Einmal war der Deutsche mit seiner Frau bei Maciéczyks zu Gast. Während eines kurzen Moments, als sich Gisi mit dem 50-Jährigen in einem Raum allein befand, wurde sie von ihm unvermittelt auf den Mund geküsst. Sie rannte zur Schwester, worauf beide die Mutter über das Vorgefallene informierten. Keine Reaktion von deren Seite; man habe sich zu Tischgesetzt und so getan, als ob nichts gewesen wäre. In der Folge habe man sich weiterhin gegenseitig besucht. Immerhin sei es nicht mehr zu einem Übergriff gekommen. Der nicht aufgearbeitete Vorfall vergrösserte allerdings Gisis Distanz zur Mutter.

Die Schule setzte Gisi nicht bis zur Matura fort, sondern schloss sie mit einem Cambridge-Diplom ab. Ihr Bildungsstand entsprach etwa dem, was man im deutschen Schulsystem als mittlere Reife bezeichnet. Aber was sollte sie damit anfangen? Man riet ihr, an einer öffentlichen Schule Englisch zu unterrichten und daneben Kurse in Stenografie und Maschinenschreiben zu nehmen. So stieg sie mit 18 als Englischlehrerin ins Erwerbsleben ein. Bald wechselte sie jedoch zu einer Firma, die Tonaufnahmen machte und Platten presste. Dort gefiel es ihr, aber da die Firma nach kurzer Zeit dicht machte, verlor sie den Job.
1961, als Irene aus Italien zurückkehrte, erlitt der Vater den zweiten Herzinfarkt. Auch diesmal erholte er sich davon, blieb aber physisch und mental angeschlagen. Die Strenge der Mutter machte die Situation für alle nicht einfacher. Um einen Eindruck davon zu vermitteln, erzählt Gisi, dass zuhause nur klassische Musik gehört wurde. Dabei wehte ab den 60ern ein neuer Wind durch die Welt, Rock ‚n' Roll, Miniröcke, die Beatles, die Rolling Stones! Wir konnten nicht träumen! So Gisis Bilanz im Rückblick auf die Zeit als junge Erwachsene. Und tagsüber hätten sie nicht mal lesen dürfen, da man nach Ansicht der Mutter damit nur Zeit verliere. (Dabei versuchte Gisi, über die Lektüre deutschsprachiger Zeitungen und deutscher Literatur Hochdeutsch zu lernen.)
Liebesgeschichten
Natürlich erlebten die zwei jungen Frauen auch erste amourösen Geschichten. Irene kam verliebt aus Italien heim und sehnte sich dorthin zurück. Die Mutter habe dafür kein Verständnis gehabt und sich fast wie eine Inquisitorin verhalten. (Das weckt Erinnerungen ans Verhalten von Isabellas Grosseltern väterlicherseits gegenüber dem Sohn Johan Christian, als dieser mit Maria Josepha anbändelte.6) Irene begann in einem italienischen Reisebüro zu arbeiten, um die Chance zu haben, möglichst bald wieder nach Italien zu kommen. Aber der Liebesgott hatte kein Einsehen. So ihre Schwester. Bald jedoch lernte sie einen Engländer kennen, der, nachdem er ein Flugbillett gekauft hatte, um sie zu werben begann. Mit Erfolg; 1964 wurde Hochzeit gefeiert. Diesmal hätten die Eltern entzückt reagiert, da sie die Verbindung als ‚gute Partie' sahen. Der Engländer arbeitete in einem Unternehmen, das weltweit Wasserkraftwerke baute. Da Gisi zu dieser Zeit einen Job in der Administration von Pan American Airways annahm, konnte sie für wenig Geld an die Orte fliegen, wo Irenes junge Familie jeweils lebte. Sie war auch Patin von Irenes Tochter Gelly. Einmal reiste sie bei dieser Gelegenheit gemeinsam mit ihrem Vater einen Monat lang durch Europa.
Auch Gisi erlebte eine erste intensive Beziehung zu einem jungen Mann. (Sie nennt ihn B, da sie mit ihm bis heute freundschaftlich verbunden ist.) Er studierte Betriebswirtschaft und lebte mit seiner Familie in San Carlos de Bariloche (heutige Kurzform: Bariloche), dem Fremdenverkehrszentrum und berühmten Wintersportort am Fusse der Anden. (Mit den Eltern verbrachten Gisi und ihre Schwester dort häufig die Ferien.) Der junge Mann kam wie sie aus einer erzkatholischen Familie. Sich zu umarmen und zu küssen war den Verliebten vor der Verlobung untersagt, so dass B. seine Freundin kurzerhand zur Verlobten erklärte. Tatsächlich planten sie eine gemeinsame Zukunft. Um den Lebensunterhalt zu verdienen, wollte sie in der Nähe von Bariloche ein Teehaus eröffnen. Isabella war dagegen, Gisi fügte sich.
Ihre Zukunft wurde von den Eltern geplant. Um eine ihren Vorstellungen entsprechende Ehe einzufädeln, wurde sie Peter, einem Schweizer Chemiker, vorgestellt, der in Buenos Aires für Ciba-Geigy zu arbeiten anfing. Peter war 20 Jahre älter als sie; er sei liebenswürdig gewesen und habe gut ausgesehen. Einen Monat später hielt er um ihre Hand an. Sie sei nicht verliebt gewesen, sagt sie, aber die Eltern hätten statt ihr den Antrag gutgeheissen. Im März 1969 fand die Hochzeit statt. Die erste Nacht war der Beginn einer elfjährigen Frustration. Intim klappte es zwischen ihnen überhaupt nicht. Einen Monat nach der Hochzeitsnacht diagnostizierte der Gynäkologe bei Gisi eine Scheidenentzündung. Heute sagt sie, die katholische Sexualmoral sei für das Desaster mitverantwortlich gewesen. Wenn sie nicht jungfräulich zum Altar gegangen wäre, hätte sie sich die verlorenen Jahre mit Pedro ersparen können. In «Memoria viva» äussert sie sich darüber (sinngemäss übersetzt) so: Einer auf Liebe gegründeten Beziehung kann die sexuelle Liebe vor der Heirat von der Kirche nicht vorenthalten werden. Man muss sich kennen, bevor man vor Gott einander ewige Treue schwört. Ich verstehe es nicht, und ich werde es nie verstehen. Das ist von Gott so nicht gewollt! Ihrer Erfahrung gemäss gebe es nur wenige glückliche Ehen. Wer etwas anderes behaupte, belüge sich selbst. Meist trösteten sich die Leute mit den Kindern bzw. rechtfertigten die unglückliche Ehe mit der Existenz der Kinder.
Gleichwohl lebte das Paar nicht im Unfrieden; vielmehr setzten sie gemeinsam einiges in Bewegung, um die Situation zu verändern. Ohne Erfolg. Dabei war es Gisis sehnlichster Wunsch, Kinder zu bekommen.
Da sie aus gesellschaftlichen Gründen als Ehefrau nicht mehr arbeiten konnte, widmete sie einen Teil ihrer Zeit gemeinnütziger Arbeit, nahm ausserdem Klavierunterricht, begann zu malen und arbeitete ehrenamtlich in der Firma ihres Schwagers. (Er und seine Frau waren mit den zwei Kindern Jan und Gelly nach B.A. zurückgekehrt.) Das alles konnte sie nicht zufriedenstellen; die Mauer zwischen ihr und Pedro liess sich nicht niederreissen, auch wenn Pedros Feingefühl einiges zur Entspannung beitrug.
Beziehungs-Dramen und eine neue Bildungschance
Im Januar 1974 verstarb Gisis Vater. Vor der Beerdigung ging sie zur Beichte, zu einem Padre, zu dem wegen seiner Predigten viele junge Leute in die Sonntagsmesse kamen. Ihre Leidensgeschichte, über die bisher nur ihrer Schwester Bescheid wusste, erzählte sie nun dem Beichtvater. Er habe ihre Hände gepackt und sie zu trösten versucht. Anderntags besuchte er sie in ihrem Haus. Wie sie feststellte, hatte sich der Padre in sie verliebt. Sie fühlte sich geschmeichelt, war aber gleichzeitig völlig verwirrt. Rückblickend sagt sie, er habe ihr damals sehr geholfen. Tatsächlich begann eine gegenseitige Beziehung. Damals reiste sie mit Pedro zweimal im Jahr nach Europa – auch um dessen Eltern und Bekannte zu besuchen. Nun machte sie für einmal eine Reise in die Schweiz ohne ihn, dafür zusammen mit dem Padre. Der zeigte sich wild entschlossen, sie zu heiraten, und wollte sich darum aus dem Priesteramt verabschieden. Das sei, erzählt sie, für sie unvorstellbar gewesen. Nicht nur, weil man sich in Argentinien damals nicht scheiden lassen konnte, sondern auch, weil er für viele junge Leute ein Idol gewesen sei. Und zwar als Priester. Sie beendete die Beziehung. Mit dem Ehemann lebte sie weiterhin in nach aussen vorgetäuschter Harmonie.
Das Jahr 1978 brachte eine Wende. Die Northlands School ermöglichte es ehemaligen Schülerinnen, sich in einem zweijährigen Kurs auf die Maturität vorzubereiten. Gisi meldete sich umgehend an. Sie ging nun wieder zur Schule, in einer Klasse mit 18 Schülerinnen; die meisten verheiratet und Mütter von Kindern. Zwölf von ihnen beendeten den Kurs erfolgreich. Auch Gisi. Es sei streng gewesen, aber die Fächer hätten sie fasziniert, und für sie habe sich eine neue Welt aufgetan.
Einschub: Nach dem Militärputsch von 1976 installierte Jorge Rafael Videla in Argentinien eine Militärdiktatur. Es folgte die Zeit des offenen Staatsterrors, der sich nicht nur gegen die Montoneros und andere Stadtguerillas richtete, sondern gegen jede Form von Opposition. In Gisis Klasse studierte auch die Ehefrau von Guillermo Walter Klein, dem damaligen Staatssekretär des Wirtschaftsministeriums. An einem frühen Vormittag im Novembers 1979 hörten sie während des Unterrichts eine heftige Detonation. Wie das deutsche Magazin «Spiegel» damals berichtete, waren vor der Villa des Staatssekretärs Uniformierte der Streitkräfte vorgefahren. Einer der Wächter sah unter einer Uniformmütze langes Haar hervorquellen. Um zu reagieren, war es bereits zu spät; die Uniformierten begannen zu schiessen und Handgranaten zu werfen. Dann, so das Magazin, fiel das zweistöckige Haus, von einer Dynamitladung gesprengt, in sich zusammen. Es gab einige Verletzte, jedoch keine Toten. Erst einen Monat später gab die Junta bekannt, dass die Montoneros für das Attentat verantwortlich seien. Dabei war die Untergrundorganisation von den Militärs längst totgesagt worden. (Auch Frau Klein, Gisis Mitschülerin, schloss die Schule erfolgreich ab. Sie wurde Juristin.)
Gisi ging während der zweijährigen Schulzeit wieder im Haus ihrer Mutter ein und aus; diese kochte für sie und die beiden Kinder von Irene, die ebenfalls die Northlands School besuchten. Isabella war ausserdem berufstätig, hatte sie doch als 60-Jährige die Kundschaft des verstorbenen Mannes übernommen und dessen Erwerbstätigkeit fortgeführt. (Er hatte nach dem zweiten Herzinfarkt für die Schweizer Firma Folex7 gearbeitet, hauptsächlich als Importeur von Filmrollen für Druckereien.) Sie tat dies bis ins hohe Alter und sicherte so ihre finanzielle Unabhängigkeit. Tatsächlich waren ihre Ersparnisse seit der Erkrankung ihres Mannes geschrumpft.

Im katholischen Korsett
Ein Jahr vor den Maturitätsprüfungen, Gisi war nun 34, reiste sie nach Bariloche, weil sie über sich und ihre Zukunft Klarheit gewinnen wollte. Bei der Schwester ihres Ex-Verlobten B. wohnend, traf sie auch ihn wieder. Er war noch unverheiratet, und die emotionale Nähe zwischen ihnen schien kaum verändert. Gleichwohl hätten sie ausser flüchtigen Küssen keinerlei Zärtlichkeiten ausgetauscht. Gisi erklärt diesen Umstand mit der Zensur im Kopf von B. Dabei hätten sie beide wiederum von einer möglichen Heirat gesprochen. B. schlug vor, sie solle sich mit der Bitte an den Papst wenden, die Ehe mit Pedro zu annullieren.
Als sie nach Buenos Aires zurückreiste, akzeptierte sie den Wunsch des Freundes, während eines Jahres keinen Kontakt zueinander aufzunehmen. Heute deutet Gisi den seltsamen Vorschlag als Ergebnis von B.s Gefangensein im kirchlichen Normenkorsett.
Noch vor der Maturität erreichte Gisi die Annullation ihrer Ehe durch die päpstliche Behörde. Nun war sie frei, die Beziehung zu B. wiederaufzunehmen. Sie rief ihn an – er hielt sich zu diesem Zeitpunkt in der Hauptstadt auf – und sie vereinbarten ein Treffen vor dem Haus seiner Eltern. Sie fuhr mit dem schriftlichen Entscheid aus Rom zu ihm, brauchte aber nicht mal aus dem Auto zu steigen, denn er erklärte ihr, inzwischen habe er sich in eine andere Frau verliebt.
Wenn du einen Traum hast, …
Der erfolgreiche Schulabschluss brachte wiederum eine Wende. Als sie bei der Schulrektorin Rat suchte, erklärte ihr diese: Wenn du einen Traum hast, erfülle ihn dir! Das bestärkte sie, sich von Pedro zu trennen. Ihr Verlangen nach einer Familie war nach wie vor gross; an Pedros Seite würde ihr das versagt bleiben. Um ihn nicht zu kränken, ging sie nach Bariloche. Sie hätten sich wie Freunde voneinander verabschiedet. Das zeigt eine Eigenart von ihr; Enttäuschungen und Kränkungen, welcher Art sie auch waren, nahm sie (und hält es bis heute so) nicht zum Anlass, die Beziehungen zu den Verursachern abzubrechen. Sowohl zu B. als zu Pedro hält resp. hielt sie weiterhin Kontakt.
Der Ortswechsel nach Bariloche bedeutete auch einen Wechsel von einem Haus mit 300 in eine Wohnung mit 45 Quadratmetern Fläche. Das sei für sie kein Problem gewesen, hält sie fest. In Bariloche begann sie als Englischlehrerin auf Sekundarstufe zu unterrichten – vorerst in einer Privat-, bald auch in einer öffentlichen Schule. Von Anfang an habe sie sich wohlgefühlt. Nicht zuletzt, weil sie von B.s Familie Unterstützung bekam. Obwohl sie den Ort gut kannte, war die Umstellung auf die klimatisch neuen Verhältnisse eine Herausforderung. In den Wintermonaten Juni, Juli, August wird es auf 41 Grad südlicher Breite ähnlich kalt wie im Winter in unseren Alpen. Die Schüler:innen brachten ihr jeweils Holz in die Schule, damit sie zusätzlich heizen konnte. Sie wussten, dass ihre Englischlehrerin eine Gfrörli war. Nicht nur an die Schneemengen gewöhnte sie sich, sie lernte auch Ski zu fahren. Und natürlich verbrachten ihre Nichte und ihr Neffe gemeinsam mit Mutter Irene nun öfters die Ferien bei ihr.
Mutterfreuden?
In ihren ersten Sommerferien flog Gisi nach Buenos Aires. Dabei kam es zu einer folgenreichen Begegnung. Sie kam mit einem Mann ins Gespräch, einem verheirateten Vater von drei Kindern, der seit Jahren allein in Bariloche lebte und dort sein eigenes Hotel führte. Er bat sie, sich bei ihm zu melden, sobald sie aus der Hauptstadt zurück sei. Das tat sie dann zwar nicht, begegnete ihm aber zufällig in der Stadt. Er brachte sie nach Hause, lud sie später zum Essen ein, warb um sie. Es folgten – auch in der Rückblende so erinnert – acht unvergessliche Monate, während denen Gisi gemeinsam mit ihm die grossartige Natur rund um Bariloche kennenlernte und ihn auch zum Fischen begleitete. Verliebt, wie sie gewesen sei, habe sie nicht nur die saubere Luft intensiver als bisher wahrgenommen, sondern mit 37 zum ersten Mal voll zu leben begonnen.
Mit 38 wurde sie schwanger! Jorge D. teilte ihre Freude nicht, im Gegenteil, er wollte, dass sie die Schwangerschaft abbrach. Sie lehnte ab, war aber einverstanden, erneut nach B.A. zu reisen und dort mit seinem Anwalt zu reden. (Was Jorge damit bezweckte, ist unklar.) Zur Mutter zu gehen und sie einzuweihen, getraute sie sich nicht. In ihrer Verzweiflung wandte sie sich an den früheren Ehemann und an die Schwester. Pedro war bereit, Ersatzvater zu werden, jedoch nur unter der Bedingung, dass niemand den Namen des wirklichen Vaters je erführe. Mit Irene besprach sie sich eingehend. Beide waren sich bewusst, dass es in Argentinien gesellschaftlich nicht akzeptiert war, als Frau ein Kind allein grosszuziehen. Es doch zu tun, dafür habe ihr der Mut gefehlt. Zudem wurde sie von Jorge weiter unter Druck gesetzt. Nach langem Zögern suchte sie einen Arzt auf, der den Schwangerschaftsabbruch vornehmen würde. In der Nacht davor bat sie das ungeborene Kind in einem Brief um Verzeihung.
Nach dem Eingriff ging sie kurzzeitig nach Bariloche zurück, um Anstellung und Wohnung zu kündigen. Danach mietete sie in Buenos Aires eine Wohnung. Jorge rief weiterhin an und kam sie öfters besuchen. Bis heute fragt sie sich, warum sie seine erneute Annäherung duldete.
Ein Jahr nach dem Schwangerschaftsabbruch überraschte Jorge sie: Er habe in Bariloche ein Haus gemietet, damit sie gemeinsam dort leben könnten. Sie solle doch wieder unterrichten, während er das Hotel führe. Tatsächlich kehrte Gisi zu ihm zurück – und wurde 1983 zum zweiten Mal schwanger. Mit Zwillingen. Diesmal reagierte Jorge positiv. Darum, sagt sie, hätten die glücklichsten neun Monate ihres Lebens begonnen. Auch mit seinen (erwachsenen) Kindern verstand sie sich gut. Und als sie ihren Schülerinnen und Schülern von der Schwangerschaft erzählt habe, hätten sie überaus freudig reagiert.
Wegen ihres Alters empfahl die Ärztin eine Geburt mit Kaiserschnitt. Ihre Mutter, mit der sich Gisi nun auch besprach, überredete sie jedoch, natürlich zu gebären. Sie solle die Zwillinge im britischen Spital in B.A. zur Welt bringen. Der verantwortliche deutsche Arzt dort sei eine Koryphäe; in diesem Spital gehe bestimmt nichts schief. Isabella wollte das Beste für ihre Tochter, aber der Entscheid, zu dem sie sie drängte, sollte sich als fatal erweisen. Als es soweit war, verbrachte Gisi in der Klinik zwei Tage mit Bangen und Warten – und wurde endlich doch mit Kaiserschnitt entbunden. Von zwei Buben, Juan José und Rodolfo. Juan José starb nach drei Tagen; er hatte in den zwei Tagen vor dem Eingriff zu viel Fruchtwasser getrunken. Gisi selbst erkrankte an Kindbettfieber, was den Aufenthalt in einem Sanatorium notwendig machte.
Zurück in Bariloche, zogen sie und Jorge mit Rodolfo in ein Haus am See. Aber sie hatte das Geschehene noch nicht verarbeitet. Und weil nach einem Jahr Beziehungsprobleme begannen, schlitterte sie in eine Depression. Der Arzt riet beiden zu einer Therapie. Sie nahm den Vorschlag an, er lehnte ihn ab. Seine Weigerung erklärt sie mit dem Machismo jener Zeit. Ausserdem seien Psychotherapien für viele Argentinier bis heute suspekt. Was nicht ins persönlich heile Bild passe, werde unter den Teppich gekehrt. Zumindest in ihrer Generation beobachte sie dieses Verhalten bis heute.
Für die Therapie kehrte Gisi mit Roldolfo nach Buenos Aires zurück. Bald intervenierte Jorge jedoch, sie sollte die Behandlung früher als vom Arzt vorgeschlagen abbrechen und nach Bariloche zurückkehren. Was sie ablehnte. Auch die Briefe seines Juristen stimmten sie nicht um. Aber in der Folge musste sie darum kämpfen, das Sorgerecht für Rodolfo zu erhalten. Sie gewann die Auseinandersetzung. Es wurde vereinbart, dass Jorge seinen Sohn jeden Monat besuchen konnte und dass sie im argentinischen Sommer mit ihm jeweils einige Zeit in Bariloche verbrachte. Als er sie Jahre später fragte, ob sie zu ihm zurückkehre, habe sie entschieden nein gesagt.

Nun war sie eine alleinerziehende Mutter. Das hatte auch finanzielle Konsequenzen, erhielt sie doch vom Vater des Kindes keine finanzielle Unterstützung. Um sich abzusichern, verkaufte sie zwei zuvor erworbene Immobilien und zog mit dem Kind in ein Haus in La Lucila, einem Stadtbezirk von Olivos. Dort richtete sie eine Art Mittagstisch für Schüler:innen ein. So konnte sie ihren Sohn ständig um sich haben und den Lebensunterhalt verdienen. An die acht Jahre, während sie dies tat, habe sie gute Erinnerungen.

Zwei tragische Verluste
Am 1. Januar 1994 wurde Isabella 80-jährig. Das Fest feierten sie schon fünf Tage früher. Von Jorge bekam die Jubilarin einen Strauss Rosen zugestellt. Sie und Jorge verstanden sich ausgezeichnet; entsprechend gross war Isabellas Freude. Kaum eine Stunde später platzte die schockierende Nachricht in die Geburtstagsfeier, Jorge sei in Bariloche beim Fischen ertrunken.
Als Gisi mit ihrem Sohn dort eintraf, suchte man immer noch nach der Leiche. Erfolglos. Sie wurde nie gefunden. Das Rätsel um seinen Tod blieb ungelöst, was das Unglück für die ihm Nahestehenden doppelt schwer machte. Der einzige Trost für Gisi kam von seinen Brüdern und von Isabella. Gemeinsam mit dem achtjährigen Rodolfo nahm Gisi von Jorge Abschied; sie hätten Rosen gepflückt, sich ans Ufer des Sees gesetzt und die Blumen ins Wasser gestreut.
In den folgenden Jahren wurde es einsamer um sie; Freundschaften schliefen ein, und Jorges Brüder starben. Dass alleinerziehende Frauen in Argentinien Gefahr laufen, ausgegrenzt zu werden, bestätigte sich. Sie wurde von verheirateten Bekannten kaum mehr eingeladen. Als Freund blieb ihr Pedro; zu ihm hatte sie nach der Scheidung (1980) die Verbindung nie abgebrochen. Aber kaum ein Jahr nach Jorges Tod erkrankte er an Krebs. 1998 entschloss er sich zur Rückkehr in die Schweiz, um sich dort behandeln zu lassen. Schon zuvor hatte er Gisi die Farm geschenkt, die er in der Zeit nach ihrer Trennung gekauft hatte. Sie befindet sich in Arrecifes, knapp 200 km nordwestlich von B.A. Nach argentinischen Verhältnissen umfasst sie bescheidene 100 Hektaren, aber die Farm sollte Gisi in der Folge einen Neuanfang möglich machen.
Vor der Abreise verkaufte Pedro das Haus in der Hauptstadt; er wollte sich nach seiner Rückkehr eine neue Bleibe suchen. Gisi und er kamen überein, sich bald in der Schweiz zu treffen. Nach eineinhalb Jahren und zahlreichen Operationen verschlechterte sich Pedros Gesundheitszustand rapide. Gisi reiste mit Rodolfo nach Basel. Sie wollte ihrem früheren Ehemann in der schlimmen Zeit beistehen. Noch immer hoffte sie auf Genesung. Er selbst zweifelte, ob er das Spital je wieder würde verlassen können, und bat sie und zwei seiner Freunde, für ihn um Sterbehilfe nachzusuchen. Zwei Wochen darauf wurde er intubiert, und täglich musste sein Blut gewechselt werden. Nun entschied man seinem Wunsch gemäss, weiterhin Beruhigungsmittel einzusetzen, aber auf lebensverlängernde Massnahmen zu verzichten. Wenige Stunden später endete Pedros Leben.
Bäuerin

Natürlich hatte Pedro das Farmgelände nach dem Kauf verpachtet. Im Unterschied zur Schweiz erhält der Landbesitzer statt Pachtzins einen Teil der Ernte. Auf Sauce Chico, wie die Farm heisst, werden wie im weiteren Umland Weizen, Mais und seit jüngerer Zeit hauptsächlich Soja angebaut. Wer das Saatgut liefert, bestimmt der Eigentümer mit. So gesehen sind die Pächter fürs Einsäen, Ernten sowie für den Erhalt der Bodenfruchtbarkeit verantwortlich.
Nachdem der Campo in ihren Besitz übergegangen war, fuhr Gisi übers Wochenende regelässig hin. In B.A. betrieb sie weiterhin den Mittagstisch. Im Farmhaus wohnte zu dieser Zeit ein Bauer mit seiner Mutter, aber es hatte genug Platz auch für Gisi, Rodolfo und Isabella. Tatsächlich kam auch Isabella gerne auf die Farm. Sie wurde zur wichtigen Ratgeberin, war sie doch als Kind und Jugendliche mit Bauernarbeit aufgewachsen.
Von den 90 ha waren knapp zehn nicht angebaute Fläche; mit zum Teil prächtigem Baumbestand. Das Gelände rings ums Farmhaus gleicht einer Parklandschaft. Weil es weitherum keinen Wald und kaum Baumbestand gibt, ist das Gelände ein Vogel-Biotop. Mit einer Akustik voller Gesang und Gezwitscher. Gisi war entschlossen, hier als Kleinbäuerin tätig zu werden. Als das Haus frei wurde, liess sie es zum Gästehaus um- und ausbauen und über eine 4 km lange Leitung ans Stromnetz anschliessen. In der Folge verbrachten auch Irenes Kinder und Schulkameraden von Rodolfo viel Freizeit auf Sauce Chico.

Bald einmal hielt Gisi rings ums Haus eine Menge Tiere, Hühner, Gänse, Schweine sowie zwei Pferde. Sie seien viel geritten. Sich ganz der Farm widmen konnte sie erst, als sie den Mittagstisch aufgegeben hatte. Ab diesem Zeitpunkt begann sie selbst zu produzieren; sie legte einen Gemüsegarten an und pflanzte Beerensträucher. Da sie viel mehr erntete, als sie selbst verwerten konnte, verkaufte und verschenkte sie einen Teil der Erträge an Bekannte und Freunde in der Hauptstadt. Sie beschäftigte zwar Arbeitskräfte, legte aber auch selbst kräftig Hand an. Vermutlich habe man über sie gelacht, aber das störte sie nicht. Von den Landbesitzern in der Gegend lebten viele in der Hauptstadt und seien selbst nicht bäuerlich aktiv.
Zwischen 2005 und 2011, als Rodolfo in San Juan studierte, wohnte Gisi zumeist auf dem Campo. Während längerer Zeit gemeinsam mit einem Angestellten, der zum wichtigen Ratgeber und Helfer wurde. In den Verkauf kamen hauptsächlich Fleisch, Eier, Gemüse, Käse und «Süsses». Letzteres stellte sie selber her, aus Feigen, Himbeeren und Pfirsichen. – Käse? – Ja, nachdem sie eine Kuh gekauft hatte, begann sie auch zu käsen. Dazu gibt es eine Vorgeschichte: Während einer Reise in die Schweiz besuchte sie eine Schaukäserei – und war fasziniert von dieser Art der Milchveredelung. Es sei für sie «ein magischer Moment» gewesen. Auf der Rückreise hatte sie Lab im Gepäck, das aus dem Magen junger Kälber gewonnene Enzym, das beim Käsen die Milch gerinnen lässt, ohne dass diese sauer wird. Als auf Sauce Chico der Tierbestand um eine Milchkuh erweitert war, fing sie an zu experimentieren. Und in der Tat hatte sie wenig später eigenen Käse im Angebot.
Abgesehen davon, dass sie sich allmählich auf biologischen Anbau fokussierte, fing sie auch an, sich intensiver mit den 90 Hektaren Pachtland zu beschäftigen. Schon früher hatte sie festgestellt, dass die Landnutzer Pedro übers Ohr gehauen hatten. Es sei eben sehr einfach, die Angaben über die Erntemenge zu fälschen. Ihr Hauptinteresse galt jedoch der Frage, wie sie die Erträge ohne Einsatz von Chemie steigern konnte. Sie liess verschiedenes Saatgut und geänderte Fruchtfolgen ausprobieren und handelte mit Saatgutfirmen neue Verträge aus.
Nicht alle Versuche glückten. Den Durchbruch brachte der Bau einer Bewässerungsanlage. Seither fliesst über eine Grundwasserpumpe und ein Schlauchsystem Wasser auf die Äcker. Damit leistete Gisi Pionierarbeit. Inzwischen existierten rund um Sauce Chico mehr als zweihundert solcher Anlagen.
Der Staat schöpft ab
Die Ernte wird vor der Vermarktung von den Getreidebauern in Gemeinschaftssilos gelagert. Auch Gisis Anteil, ungefähr ein Viertel der Ernte, befindet sich dort. Im Juni 1922 waren es etwa hundert Tonnen. Wenn sie Geld brauche und der Preis gut sei, verkaufe sie eine bestimmte Menge. – Mit dem langjährigen Pächter versteht sich sehr gut. Es sei für sie selbstverständlich, in Jahren mit tiefen Erträgen kleinere Anteile zu nehmen.
Das Grundproblem der argentinischen Getreidebauern besteht darin, dass der Staat über die Quellensteuer so viel vom Erlös abschöpft wie in keinem der umliegenden Staaten. Auch nicht in den USA. Eine kürzlich erschienene Dokumentation der Online-Zeitung «Infobae»8 zeigt die Fakten. Wie viel Dollar, so lautete die Frage, erhalten Produzenten in Argentinien, Uruguay, Brasilien, Paraguay und den Vereinigten Staaten für eine Tonne Sojabohnen? Die Antwort lässt aufhorchen: Während der Preis zur Zeit der Untersuchung in den angrenzenden Staaten zwischen 498 und 512 USD und in den Vereinigten Staaten 530 USD betrug, erhielten die argentinischen Getreideexporteure gerade mal 144 USD für tausend Kilo Soja. «Infobae» schlussfolgert:
Der argentinische Sojabohnenproduzent ist derjenige, der im Vergleich zu allen anderen Ländern der Region die wenigsten Dollar für seine Ernte erhält. Aufgrund der Gültigkeit von Exportrechten – Quellensteuern – und dem Vorhandensein eines Wechselkursgefälles9 von mehr als 150 % liegt der in harter Währung gemessene Preis, den der argentinische Landwirt erhält, weit unter dem internationalen Niveau.
In den Vergleichsländern kennt man weder Quellensteuern noch Währungssplitting; abgezogen werden einzig die Frachtkosten von den Feldern zu den verschiedenen Handelszentren. Deshalb behalten zurzeit viele argentinische Getreidebauern grössere Teile der Ernte in den Silos. Gemäss Landwirtschaftsministerium wurden im Juni 2022 wöchentlich nahezu 800'000 Tonnen Sojabohnen verkauft, in den folgenden fünf Wochen nur noch jeweils 500'000 Tonnen. Der argentinische Präsident kritisierte die Produzenten dafür scharf.
Das ist jedoch bloss ein Teil der Misere. Da die argentinischen Exporteure statt in harter Währung in Pesos bezahlt werden, mindert die hohe Inflationsrate die Einkünfte innerhalb kurzer Zeit beträchtlich. Im September 2022 meldeten Schweizer Medien, dass die argentinische Teuerung am Ende des Jahres bei 90 Prozent liegen dürfte. Das hat zahlreiche Gründe. Das Land befindet sich seit Jahren in einer Wirtschaftskrise; die Produktivität der Industrie ist gering, der Staatsapparat gilt als zu aufgebläht, und die Schattenwirtschaft entzieht dem Staat massiv Steuereinnahmen. Das Budgetdefizit wird mit ständig neu gedrucktem Geld finanziert. So wird die Währung gegenüber dem US-Dollar zusätzlich geschwächt. Gegenwärtig hat Argentinien beim Internationalen Währungsfonds (IWF) überdies Schulden in der Höhe von 44 Milliarden Dollar.
Gisi macht kein Geheimnis daraus, wie sie sich gegen die Inflation zu schützen versucht. Sobald nach einem Getreideverkauf auf dem Bankkonto Geld eintrifft, hebt sie es ab und tauscht es gegen Dollar. Nicht auf der Bank! Die Inflation ist in Argentinien ein Dauerproblem; deshalb versucht sie sich wie viele andere, Vermögenswerte in Immobilien anzulegen. Sie besitzt in Buenos Aires neben ihrer eigenen Wohnung ein Appartement in Tigre. (Da es Rodolfo auch in naher Zukunft kaum nuten wird, werde sie es wahrscheinlich künftig vermieten.) Ausserdem kaufte sie im Weinbaugebiet westlich von San Juan eine hektargrosse Bauparzelle. Ob ihr Sohn da jemals ein Haus bauen wird, ist offen. (Mehr darüber weiter unten.) Auf jeden Fall ist die Parzelle eine sichere Investition.
Isabella wird 101-jährig
Als 86-Jährige reiste Isabella mit Tochter Gisi und Enkel Rodolfo nochmals ins Wallis, nach Raron und St. German. Anlass war die Zusammenkunft von Nachfahren der Salzgeber, bzw. ein Familientreffen der «Tscherggini». Für die Organisatoren bedeutete das ein Zurück bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, zu den Urahnen, genauer zur elfköpfigen Familie von Josef Salzgeber (1827-1909) und seiner zweiten Frau Cresenzia Theler10 (1836-1919). Eine der Töchter aus Salzgebers zweiter Ehe war Maria Josefa, die spätere Ehefrau von Johann Christian Theler. Den Beinamen Tscherggini bekamen die Familie und ihre Nachkommen wegen ihres (abgelegenen) Wohnsitzes «Tscherggen» zwischen Sankt German und Raron.

Dass Gisi mit Mutter und Sohn deswegen in die Schweiz reiste, war für sie keine Frage. Sie will über ihre Familie, d.h. über ihre Herkunft Bescheid wissen. Tatsächlich trafen sich in Raron, wo eine grosse Halle gemietet war, 380 Leute, viele von ihnen von weither angereist. Als Orientierungshilfe seien auf den Tischen Fotos ausgelegt gewesen, so dass jede und jeder ihre bzw. seine Familie suchen konnte. Gisi und weitere Verwandte hätten den Anlass auch genutzt, um auf dem Bergfriedhof von Raron Rilkes Grab zu besuchen.
Das Familientreffen wurde später in einer Broschüre dokumentiert. Darin findet sich auch das erwähnte Interview mit Isabella. Sie äusserte sich darin durchwegs prononciert. Auf die Frage, warum sie in Argentinien geblieben sei, antwortete sie: Ich bin nicht in Argentinien geblieben, sondern bin 1946 mit meinem Mann und den beiden Töchtern dorthin zurückgekehrt. Und fügte an: Ich lebe immer noch in Buenos Aires, bin hier daheim und habe nie den Wunsch gehabt, anders als zu Besuch in die Schweiz zurückzukehren. Über Grösse und Topografie Argentiniens gab sie ungefragt Auskunft: Das Land sei mit 2.9 Millionen Quadratkilometern fast so gross wie Europa ohne Russland und zähle 33 Millionen Einwohner. Der grosse Teil des Landes sei flach, der Norden waldreich, und im Westen habe Argentinien Anteil an den Anden mit dem 6959 m hohen Aconcagua. Es fehlt uns weder an Schnee noch an Bergen, aber die Distanzen sind eben enorm. Argentinien ist so lang wie Europa vom Nordkap bis Sizilien!
Die Antworten verraten einiges über Isabellas Selbstwertgefühl. Ihre Bemerkung, im Vergleich zur Schweiz vermisse sie in Argentinien Pünktlichkeit und Ordnung, relativierte sie sogleich: Das werde wettgemacht mit der Humanität und Gastfreundschaft der netten Menschen. Als sich der Interviewer erstaunt zeigt über ihr gutes Hochdeutsch und Walliserdeutsch, entgegnete sie trocken: Das ist meine Muttersprache. (…) Mit den Kindern und Enkeln haben wir nie anders als Schweizerdeutsch gesprochen.
Isabella Maciéczyk-Theler liess keinen Zweifel darüber offen, dass Argentinien ihre Heimat ist und dass sie nicht bedauert, ihr Leben dort und nicht in der Schweiz zu verbringen. Im fortgeschrittenen Alter ins Ursprungsland zurückzukehren wie damals die Eltern war für sie kein Thema.

Auch als über 90-Jährige begleitete sie ihre Tochter auf die Farm. Erst in den letzten Lebensjahren liess sie davon ab. Sie verstarb 2015 im Alter von 101 Jahren. Um sie zu pflegen, wohnte Gisi im letzten Jahr vor Isabellas Tod in deren Haus. Das Mutter-Tochter-Verhältnis habe sich während dieser Zeit gewissermassen umgekehrt. Sie umsorgte die Hochbetagte nicht nur liebevoll, sondern schenkte ihr so viel Zärtlichkeit, wie sie selbst von ihr nie bekommen hatte.
In der Rückblende zeichnet Gisi ein differenziertes Bild der Mutter. In manchem sei Isabella ihrer Zeit voraus gewesen. Und sie habe Stil gehabt. Wenn sie mit ihren Töchtern so streng gewesen sei, habe das sicherlich am Bestreben gelegen, sie für ihre künftige Rolle in einer gehobenen bürgerlichen Umgebung besonders gut vorzubereiten. Schwierig sei es für sie und Irene während der Pubertät gewesen. Beide hätten sie sich alleingelassen gefühlt. Bedauern äussert Gisi darüber, dass sie die prüde Erziehung nie ganz habe abschütteln können.
Nach dem Tod der Mutter verkauften die Töchter das Haus, in dem sie aufgewachsen waren. Da es ihr nie ans Herz gewachsen sei, habe sie kein Problem gehabt, sich davon zu trennen. Aus einem Anteil vom Erlös kaufte sie das oben erwähnte Appartement in Tigre.11 In diesem Zusammenhang äusserte Gisi sich auch darüber, wie sehr Argentiniens wirtschaftlicher Niedergang die Immobilienpreise drückt. Für ihre moderne, gut ausgestattete Wohnung – mit u.a. zwei Bädern und zwei Schlafzimmern – würde sie zurzeit (2022) höchstens 180'000 Dollar lösen. Im Naherholungsgebiet Tigre dagegen seien die Preise bisher nicht unter Druck geraten.
Rodolfo – Auswanderer in 4. Generation?
Gisis inzwischen 38-jähriger Sohn lebt heute in Florida. Er ist mit einer Venezolanerin verheiratet. Dass er in San Juan studierte, wurde schon erwähnt.12 Er hatte 2002 mit 18 die gymnasiale Ausbildung abgeschlossen und wolle Astronomie studieren. Seine Mutter versuchte ihm am neuen Wohnort und fürs Studium die bestmöglichen Voraussetzungen zu schaffen. Ihm war bisher auch in der (Privat)Schule fast alles bereitgestellt worden. Jetzt wäre er ihm zum Beispiel schwergefallen, gemeinsam mit anderen in einer WG zu wohnen. Gisi miete für ihn eine Wohnung und half ihm diese einzurichten. Sie war wohl etwas zu besorgt, aber sie findet, den eigenen Kindern müsse man Flügel verleihen. Trotz aller Unterstützung war Rodolfo in San Juan nun selbstverantwortlich für sein Fortkommen.

Das Studium sagte ihm allerdings nicht zu. Dass fast ausschliesslich am Computer gearbeitet wird, sei ihm zu wenig bewusst gewesen. Er wollte gleich wieder aufhören, blieb dann aber doch während vier Semestern an der Uni. Danach wohnte er weitere zehn Jahre in San Juan. Den Lebensunterhalt verdiente er mit der Vermietung von Pick-ups. Viel habe er dabei nicht verdient, meint die Mutter. Einem Teil der Mieter hätte es mit dem Bezahlen nicht pressiert.
Gisi und ihr Sohn besuchten einander regelmässig, und zwar wechselseitig. Als Rodolfo wieder nach Buenos Aires zurückkehrte, hatte er keinen Uni-Abschluss, aber immerhin die Gewissheit, dass er sich in San Juan ohne grosse finanzielle Hilfe seitens der Mutter hatte durchbringen können. Dass sie im Weinbaugebiet in der Nähe der Stadt die erwähnte Bauparzelle kaufte, lag daran, dass es Rodolfo dort gut gefällt und er viele Leute kennt. Sie nahm an, dass er künftig eher dort leben würde als in Buenos Aires. Da aber gegenwärtig und wohl auch in naher Zukunft Florida sein Domizil sein dürfte, bleibt ungewiss, ob er das Land in San Juan je nutzen wird.
Es ist Zufall, dass Rodolfo in den USA wohnt. Als begeisterter Surfer reiste er vor Jahren ferienhalber in die Dominikanische Republik. Dort freundete er sich mit einem amerikanischen Surfer an und wurde von diesem nach Miami eingeladen. Hier lernte er eine Venezolanerin (Jenny) kennen. Die beiden verliebten sich, und schon ein Jahr später wurde Hochzeit gefeiert. Gisi begegnete der künftigen Schwiegertochter und deren Eltern erstmals bei der Hochzeit in Miami. Jennys Mutter, geboren in den 1950er-Jahren, war eine bekannte Tänzerin, Sängerin und Schauspielerin.13 Im Sommer dieses Jahres hatte Gisi nicht nur Rodolfo und Jenny während einiger Wochen zu Gast, sondern auch deren Eltern. Rodolfo war zweieinhalb Jahren nicht mehr in Argentinien gewesen (Gisi jedoch mehrmals in Florida), denn wegen der fehlenden Green Card wäre ihm nach einer Ausreise womöglich die Wiedereinreise in die USA verweigert worden. Jenny ist ausgebildete Buchhalterin. In Miami betreibt sie ihr eigenes Kosmetikstudio. Sie besitzt auch den Pass der Vereinigten Staaten.

Rodolfo begann in Florida Data Science zu studieren, weil ihm klar wurde, dass er ohne Abschluss in den USA kaum eine berufliche Zukunft haben würde. Da die Einkünfte seiner Frau die Lebenskosten beider nicht deckten, wurde das Paar bis vor kurzem sowohl von Gisi als auch von Jennys Eltern finanziell unterstützt.
Stand November 2022: Seit zwei Monaten hat Rodolfo einen Job bei Disney World in Orlando. Wie Gisi nicht ohne Stolz bemerkt, habe er ihn «ohne Vitamin B» bekommen. Seine im Spätsommer eingereichte Diplomarbeit wurde angenommen, so dass er Ende Oktober mit einer grossen Zahl Studierender die College-Abschlussurkunde entgegennehmen durfte. Auch seine Mutter war anwesend. Inzwischen besitzt Rodolfo (dank seiner Frau) auch eine Green Card.

Wie weiter in Sauce Chico?

Im Vergleich zum verpachteten Hauptteil von Sauce Chico verursachen die parkähnlichen zehn Hektaren rund ums Farmhaus vor allem Kosten. Gisi hat die kleinbäuerliche Wirtschaft, die sie hier lange Jahre führte, aufgegeben. Sie führt weiterhin regelmässig hin, um nach dem Rechten zu sehen, das heisst, um zu sehen, welche Arbeiten anstehen. Arbeiter zu beschäftigen, wenn nichts mehr angebaut wird, geht ins Geld. Darum trägt sich Gisi mit dem Gedanken, Haus und Parkgeländes zu verkaufen. Aber angesichts der zurzeit herrschenden wirtschaftlichen Misere in Argentinien scheint es schwierig, einem guten Preis dafür zu lösen.
Irene

Irene Walmsley, Jahrgang 1941, hat bis kurz vor ihrem 80. Lebensjahr als Landschaftsarchitektin gearbeitet. Das tat sie äusserst erfolgreich, plante und gestaltete sie doch Parks und Gärten für Hotels, Estancias, Country Clubs sowie für Villenbesitzer. Auch ein Friedhof ist Teil ihres Werkkatalogs.
Nach der Heirat 1964 hatte sie mit ihrem Mann Brian in England, Südafrika und Venezuela gelebt – er arbeitete für eine Firma, die Wasserkraftwerke baute. 1969 kehrte das Paar mit Jan, dem ersten Kind, nach Buenos Aires zurück. Wenig später kam noch ein Mädchen zur Welt, Gelly – genannt nach Gisela, seiner Tante.
Der Falklandkrieg 1982 wurde für die Familie zum existenzbedrohenden Ereignis. Brian Walmsley verlor seine Stelle. Als Engländer war er in der argentinischen Firma nicht mehr willkommen. In der Folge übernahm seine Frau die Erwerbsarbeit. Anfangs verschönerte sie Schalterhallen und Empfangsräume von Banken mit Pflanzen. Das hiess, in aller Morgenfrühe mit dem Auto zu den Händlern zu fahren, dort die notwendige Menge Blumen und allerhand Schnittgrün einzukaufen und danach bei den Firmen stimmungsvolle florale Arrangements zu kreieren. Vor Schalteröffnung musste ihre Arbeit getan sein. Damit erwarb Irene Walmsley, die Enkelin des Ehepaars Theler-Salzgeber, in kurzer Zeit ein beachtliches Renommee. Das half ihr, das Tätigkeitsgebiet nach draussen, auf die Gestaltung von Grünanlagen auszuweiten. Auf die Frage, wie ihr das als Autodidaktin gelungen sei, antwortet sie: En el momento justo en lugar correcto (sie sei jeweils zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen). Mitentscheidend dürfte ihr (bisher weitgehend brachliegendes) künstlerisch-gestalterisches Potenzial gewesen sein. Dieses Talent kam nun zur Entfaltung. Architekten, Bauherren und Verantwortliche von öffentlichem und halböffentlichem Gelände wurden auf sie aufmerksam. Werbung brauchte sie nicht zu machen; es lief nahezu alles über Mund-zu-Mund-Propaganda. Aus der Innenraumgestalterin war die Paisajista Irene Walmsley geworden. Auch ihr Mann Brian hatte wieder einen Job, er war ab jetzt zuständig für die Büroarbeit und die Buchhaltung seiner Frau.

Irene Walmsley, Foto um 2002.



Seit sie aufwändige Projekte realisierte, brauchte sie Arbeitskräfte fürs Handwerkliche, für die eigentlichen Pflanzarbeiten ebenso wie für Erdarbeiten, fürs Anlegen von Wegen und dergleichen. Da sich die Einsatzsorte irgendwo in Argentinien und sogar in Uruguay befinden konnten, mussten die Leute dafür jeweils vor Ort engagiert werden. Eine Person jedoch wurde zu Irene Walmsleys festem Mitarbeiter, der Agronom Julio Castelluci. Er stellte die Leute ein und organisierte die Arbeiten, und er war Rat- und Ideengeber, was die topografischen Möglichkeiten oder die Auswahl geeigneter Pflanzen anging.14 Darum stand jeweils auch sein Name in den Planunterlagen. Neben ihrem Namen und der Berufsbezeichnung stand da: «Ing. Agr. Julio Castelluci», präzisiert durch den Ausdruck «Agropecuaria Panamericana Plantas» (Fachmann für panamerikanische landwirtschaftliche Pflanzen).
Beim Umsetzen der Pläne war Irene stets am Platz. Man erfährt, dass kaum je ein Baum und ein Strauch eingepflanzt worden sei ohne ihr Dabeisein.
Einer der spektakulärsten Aufträge für Walmsley und Castelluci war die Gestaltung der Estanzia am Lago Escondido in der grünen Berglandschaft der südlichen Anden. Dort hatte der britische Milliardär Joe Lewis ein Gelände, halb so gross wie der Kanton Zug, gekauft und liess diverse Bauten, darunter ein luxuriöses Herrenhaus, erstellen.15 Die Umgebung wollte er in eine Parklandschaft umwandeln lassen. Auch ein tropischer Garten sollte gebaut werden. Letzteres erschien aus klimatischen Gründen zunächst utopisch. Hier, unweit von Bariloche, einem der bedeutendsten Wintersportorte Südamerikas, herrscht ein ähnliches Klima wie bei uns in den Alpen. Im südlichen Sommer (November bis März) steigen die Temperaturen auf über 20 Grad, zwischen Mai und September sinken sie oft deutlich unter null. Wie sollte hier tropische Flora gedeihen?


Irene Walmsley und Julio Castelluci setzten die Pläne schliesslich in die Tat um. Eine natürliche mächtige Grotte nützend und diese durch Anbauten erweiternd, schufen sie umgeben von schneebedeckten Bergen ein wunderbares Regenwald-Ökosystem. Das war möglich, weil Kosten kaum eine Rolle spielten. (Nahezu gleichzeitig entstand übrigens die Halle mit dem Masoala-Regenwald im Zürcher Zoo.)
Die Gewächse, die man hierher schaffen wollte, gibt es zwar in Argentinien, im tropisch bis subtropischen Teil des Chaco im Norden des Landes, an den Flüssen Río Paraná und Río Paraguay. Aber vom Chaco bis zum Lago Escondido in Patagonien sind es mehr als 2'000 km. Um Pflanzen bis zur Grösse ausgewachsener Palmen zu transportieren, brauchte es Sattelschlepper und für vieles auch klimatisierte Container. Auch diese Herausforderung meisterten die beiden. Die Arbeiten begannen 2002 und dauerten zwei Jahre.
Als sie sich für das landschaftliche Grossprojekt bewarben, skizzierte Frau Walmsley ihre Vorstellungen, ergänzte sie mit Plänen und illustrierte das Ganze mit Fotos. An den Schluss setzte sie eine klare Botschaft:
Entiendo sus necesidades / Tengo la experiencia / Tengo las ganas / Estoy lista para encarar el desafío!
was sinngemäss heisst:
Ich verstehe Ihre Bedürfnisse / ich habe die Erfahrung / ich bin in der Stimmung / ich bin bereit, mich der Herausforderung zu stellen!
Das war sowohl eine klare Selbstoffenbarungs-Botschaft als auch ein unmissverständlicher Appell an Joe Lewis. Zu diesem Zeitpunkt war ja noch offen, ob sie den Zuschlag erhalten würde.
Das zu gestaltende Gelände umfasst 35 Hektar. In einer ersten Annäherung sah Frau Walmsley vor, auf 20 Hektar krautige Luzerne anzubauen, um so eine Wiese mit «schöner bläulichen Blüte» zu bekommen. Auf 10 Hektar wollte sie Walnuss- und Kastanienbäume pflanzen, einerseits als Schattenspender, andererseits als Früchtelieferanten. Vor die restlichen für Kern- und Steinobstbäume bestimmten 5 Hektar sollten Pappeln eine Art Vorhang bilden. Gedacht als Windschutz, jedoch auch als «Unterschlupf für die Fauna des Ortes». Ergänzend hielt sie fest, der Standort jedes Baumes «sollte eine landschaftliche Vision bieten»; die Produktionsaspekte seien dabei zweitrangig. Auch die Eingangswege wollte sie beidseitig von Pappeln flankieren lassen, nicht linear angeordnet, sondern der Topografie angepasst. Wo notwendig würden Sprinkleranlagen die Bewässerung sicherstellen.
Zwar liessen sich schlussendlich nicht alle Pläne umsetzen, aber das Ergebnis ist eine traumhaft schöne Parklandschaft. Einen viel grösseren Aufwand erforderte allerdings die Anlage des tropischen Gartens. Die folgenden Fotos illustrieren den Entstehungsprozess und vermitteln einen kleinen Einblick in den aus dem Nichts geschaffenen Regenwald.







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Siehe 1. Bild im Kapitel «Zweite Rückwanderung». ↩︎
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Dazu später mehr. ↩︎
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Mailand erlitt 1944 starke Zerstörungen durch US-amerikanische Bombardierungen. Besonders schlimm war der versehentliche Bombenabwurf auf eine Grundschule im Stadtteil Gorla, bei der 186 Schüler und Lehrer ums Leben kamen. ↩︎
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Da das Eisenbahnnetz, dessen längste Strecke von den Briten gebaut worden war, in der Folge schlecht unterhalten wurde, schrumpfte die Zahl der Linien. Viele Orte wurden nicht mehr bedient. Das war der Anfang des Niedergangs der zuvor beachtlichen argentinischen Eisenbahn-Infrastruktur. ↩︎
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Ab hier gebrauche ich der Einfachheit halber für Gisela Macieczyk-Theler den Kurznamen Gisi, was auch in ihrem Sinne ist, weil sie selbst so genannt werden möchte. ↩︎
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Vgl. Joh. Chr. Theler, Unterkapitel «Hochzeit». ↩︎
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Die 1957 gegründete Firma Folex existiert bis heute. Sie produziert hauptsächlich beschichtete Folien. Ihren Hauptsitz hat sie in Seewen (SZ). ↩︎
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«Infobae» ist eine 2002 in Buenos Aires gegründete Online-Zeitung. Sie hat heute Lokalausgaben in zahlreichen südamerikanischen Staaten sowie in Mexiko-City und in New York. Sie ist eine der meistgelesenen spanischsprachigen Online-Zeitungen weltweit (www.infobae.com). ↩︎
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Hier spielt der rasante Kaufkraftverlust des argentinischen Pesos gegenüber dem Dollar die Hauptrolle (manchmal bis 15 % Abwertung innerhalb einer Woche). ↩︎
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Es war nicht derselbe Theler-Stamm wie der des späteren Schwiegersohns Johann Christian. ↩︎
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Tigre liegt am Rand des Ballungsraums von B.A. und grenzt an das Delta des Río Paraná. Es ist ein beliebtes Naherholungsgebiet. Der Name geht auf ein Missverständnis zurück. Jaguare wurden ursprünglich für Tiger gehalten und gaben so der Stadt und dem Delta ihren Namen. ↩︎
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Die Stadt San Juan mit etwa 120'000 Einwohnern befindet sich 1'200 km nordwestlich von Buenos Aires und 170 km nördlich von Mendoza. Umgeben ist die Oasenstadt von einer steppenartigen Landschaft mit Felswüsten und Buschwald. Gut zwei Drittel der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche ist Rebbaugebiet. San Juan – die älteste Stadt Argentiniens, 1561 gegründet – ist nach Mendoza das zweitwichtigste Weinbaugebiet des Landes. An der in den 1970er-Jahren gegründeten Universität sind etwa 15'000 Studierende eingeschrieben. ↩︎
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Bilder und YouTube-Videos finden sich online unter «Arelys de Venezuela». ↩︎
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Im fortgeschrittenen Alter an Alzheimer erkrankt, ist er inzwischen verstorben. ↩︎
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Über Joe Lewis, den Landkauf und die bis heute andauernden politischen Folgen erfährt man mehr im folgenden Text. ↩︎