1888: Hochzeit

Die nächste Lebensphase brachte eine heftige Auseinandersetzung mit seinen Eltern. Theler schreibt vom Entscheidungsjahr 1888. Es begann mit dem Fastnachtstanz am fetten Donnerstag.1 An diesem Tag tobten sich die jungen volljährigen AussenbergerInnen in einer öffentlichen 24-stündigen Tanzveranstaltung aus. Johann Thelers Tänzerin wurde Maria Josepha Salzgeber, Zmarjosi, just eben grad jenes Mädchen, dem er im 9. Lebensjahr einen nicht grad zu zärtlichen Streich gespielt hatte (siehe oben). Die junge Frau arbeitete als Dienstmagd bei ihrer Tante in Lalden. Die Eltern billigten die Wahl nicht, aber mit Kritik hielten sie sich noch zurück. Sie glaubten oder hofften vielmehr, mit dem Ende der Fastnacht werde der Sohn die junge Frau wieder aus den Augen verlieren. Die Mutter allerdings habe mit ihrem scharfen Weiberblick konstatiert, dass Zmarjosi so ein zärtliches Liebäugelen für ihren Tänzer gehabt habe. Davon wollte der Sohn nichts bemerkt haben; Zmarjosi, meinte er, habe sich nicht anders betragen als die anderen Tänzerinnen. Zumindest sympathisch fanden die beiden einander wohl schon. Jedenfalls nutzte Hanschristi die nächste Gelegenheit für eine kurze Begegnung. Weil sie in ihren Dörfern keinen Priester hatten, besuchten die Leute aus Eggerberg und Lalden in der Fastenzeit die sonntägliche Messe in Visp. Nachher begab man sich für einen Umtrunk ins Wirtshaus. Dass ihr Sohn hier dem Marjosi ztrichu [das Trinken] bezahlte, entging den aufmerksamen Augen der Eltern nicht. Zu Hause führte das zu einem Spektakel, das im Befehl gipfelte, Marjosi Marjosi zu lassen und absolut jede Zusammenkunft zu vermeiden. Sei es, weil der Funke übergesprungen war, sei es, weil sein Widerspruchsgeist entfacht war, der Sohn setzte sich übers Verbot hinweg. Auch an den folgenden Sonntagen traf er sich mit Maria Josepha, allerdings in einem anderen Wirtshaus. Die Eltern erfuhren trotzdem davon, denn eine Tante hatte den beiden nachspioniert. Die Reaktion war heftig. Wenn er die Beziehung nicht abbreche, würden sie ihn aus dem Haus jagen. Erst jetzt erkannte der Sohn, warum die Eltern so erbittert gegen eine Beziehung mit einer Tochter der Familie Salzgeber waren. Sie widersetzten sich einer Heirat, weil diese für den Sohn wie für sie selber keinen materiellen Gewinn versprach. Das sei damals, wie Theler ausführt, die Haltung vieler Eltern gewesen.

In diesem «Tschergguhüs» genannten Gebäude wuchs Maria Josefa Salzgeber zusammen mit zahlreichen Geschwistern auf. Das Haus liegt ausserhalb des Dorfes St. German in Richtung Raron. Es stammt aus dem 17. Jahrhundert; 1938 wude es stilgerecht restauriert. Die Fassade ist geprägt von gotischen Tuffsteinrahmen. Hinter der Steinfassade verbirgt sich im Kern ein Holzhaus. Die Stube, damals der grösste Raum im Dorf, wurde oft als Tanzsaal benutzt. (Quelle: Gisela Macieczyk-Theler, Buenos Aires.)
In diesem «Tschergguhüs» genannten Gebäude wuchs Maria Josefa Salzgeber zusammen mit zahlreichen Geschwistern auf. Das Haus liegt ausserhalb des Dorfes St. German in Richtung Raron. Es stammt aus dem 17. Jahrhundert; 1938 wude es stilgerecht restauriert. Die Fassade ist geprägt von gotischen Tuffsteinrahmen. Hinter der Steinfassade verbirgt sich im Kern ein Holzhaus. Die Stube, damals der grösste Raum im Dorf, wurde oft als Tanzsaal benutzt. (Quelle: Gisela Macieczyk-Theler, Buenos Aires.)

In den armseligen Bergen herrscht die üble und hässliche Erbsucht. Darum sehen die Eltern so gerne auf jene, die mehrere und nicht nur eine Kuh im Stall haben. Dies und anderes machte mich sehr nachdenklich und verbittert. Als Genieunteroffizier fühlte ich mich doch so stark, über solche ernste Lebensentscheidung selbst zu wählen und nicht wegen ein paar Kühen mein zukünftiges Leben zu verschreiben.

Um eine Eskalation zu vermeiden, scheint Johann Theler während der folgenden Sonntage eine Begegnung mit Maria vermieden zu haben. Am «Segensonntag», d.h. am Sonntag nach Fronleichnam, führte der Zufall die beiden wieder zusammen. Dieser Tag wird in Ausserberg, Visperterminen und im Lötschental noch heute gefeiert. In der Lötschentaler Gemeinde Wiler fand schon damals eine feierliche Prozession statt. Auf Vorschlag von Severin Martig beschlossen Johann und sein Bruder Eduard, zu diesem Aufzug zu Fuss ins Lötschental zu gehen.2 Nachdem sie in aller Frühe losgezogen waren, näherten sie sich kurz vor Goppenstein zwei Personen, die sie schon längere Zeit vor sich gesehen, aber nicht erkannt hatten. Jetzt aber wurde klar, wer es war: Zmarjosi und sein Vater Tschergujosi.3

Welche Überraschung, wir wussten nicht, und sie wussten auch von uns nichts, dass man nach Lötschen wollte, und so wollte der unwillkürliche Zufall, dass Zmarijosi und Zhanschristi abermal zusammenkamen. Der Unterhalt hatte sich bald in zwei Gruppen verteilt. Ztschergujosi, Eduard und Severin waren eine Gruppe und was anders Zmarijosi und Zhanschisti waren die 2te Gruppe.

Der Tag endete mit der Verlobung von Johann Christian Theler mit Maria Josepha Salzgeber. Und dies kam so: Die drei Burschen sowie Vater und Tochter Salzgeber legten den Heimweg vom Lötschental nach Tschergen gemeinsam zurück, worauf Johann die junge Frau bis in ihre Schlafkammer begleitete, wo die jüngere Schwester bereits schlief. (Heutige Assoziationen zu diesem Szenario sind fehl am Platz.) Wie es zum Heiratsantrag kam, daran erinnert sich Theler auch 50 Jahre später noch bis zu szenischen Details:

Unser Gespräch wird ernster, zwar so, dass ich dem Marjosi den zweitletzten Finger der linken Hand in meine rechte nahm und fragte, so halb scherzhaft: «Willst du diesen Finger für mich ringen lassen?» Marjosi bricht ab, und dann sagte sie: «Dir ist doch nicht ernst?»

Meine Antwort: «Fällt mir doch nicht ein, mit solchen ernsten Fragen Scherz zu treiben.» Marjosi verliess die Schlafkammer; ich wusste nicht warum. Zirka nach ¼ Stunde kam sie zurück. Ich fragte: «Wo warst du so lange?» Antwort: «Bei den Eltern, zu fragen, was jene dazu sagen.» Von diesem Augenblick an respektierte ich Marjosi doppelt und wir waren verlobt.

Mit neuer Kraft sei er danach nach Ausserberg marschiert, aber einen Monat später hatte er die Eltern noch immer nichts gesagt. Erst als er und der Vater im Rebberg von St. German arbeiteten, kam dieser auf seine Beziehung zu sprechen. Vermutlich in der Hoffnung, der Sohn habe das Verdikt inzwischen akzeptiert. Nach einem Augenblick des Zuhörens erklärte Johann, sie seien verlobt. Was? Dann verschwinde sofort aus meinen Augen! Dies die Antwort des Vaters. Der junge Mann ging unverzüglich beim künftigen Schwiegervater Rat holen. Als er dessen baufälliges, unbewohntes Haus in St. German angeboten bekam, holte er im Elternhaus sein Werkzeug und begann gleich mit der Renovation. Zur Messe ging er am Sonntag nach Ausserberg, weil dort seine Sonntagskleider waren. Auch zu Mittag ass er bei der Familie. Der Vater drohte ihm erneut, wenn er die Bekanntschaft nicht aufgebe, werfe er seine militärischen Effekten auf die Strasse. Überdies habe er am Montag das Werkzeug zurückzubringen.

Hier prallten zwei Dickschädel aufeinander; weder der Vater noch der Sohn suchten das klärende Gespräch. Johann begab sich gleich nach St. German, holte dort eine Tschifra (Rückentragkorb) und kehrte, begleitet von Marjosis jüngerer Schwester, zum Elternhaus zurück, um seine Siebensachen mitsamt militärischer Ausrüstung einzupacken, sich Säbel und Gewehr umzuhängen und so mit der Begleiterin St. German zuzueilen.

Zwei Tage später kam der Vater ins Haus, wo Johann am Arbeiten war, befahl ihm, die Schuhe auszuziehen – weil er selber keine eigenen besass, trug der Sohn die des Vaters –, warf diese sowie sämtliches Werkzeug in die mitgebrachte Tschifra und verliess grusslos die Stube. Majosis ebenfalls anwesenden Vater hatte er ignoriert. Von diesem bekam der bedauernswerte künftige Schwiegersohn ein Paar Schuhe und einiges Schreinerwerkzeug geliehen. Weiteres wurde aus Salzgebers Bekanntenkreis zusammengetragen, so dass die Arbeit weitergehen konnte. So habe er frohen Muts die Woche durch geschreinert. Erst jetzt begab er sich zur Verlobten nach Lalden, um sie über das zwischenzeitliche Geschehen zu informieren. Entmutigen liessen sich beide nicht. Vielmehr schmiedeten sie Pläne, wie sie zu Geld kommen konnten, denn sie wollten noch im gleichen Jahr heiraten.

Was der 22-Jährige als Schreiner und Heuernte-Helfer in den kommenden Monaten verdiente, reichte nicht einmal, um die Renovationsarbeiten am Haus fortzuführen, denn um beispielsweise Fenster zu schreinern, brauchte er anderes und besseres Werkzeug sowie zahlreiche Beschläge. Weil er tüchtig und von einnehmender Art war, öffnete sich ihm die eine und andere Türe. So erhielt er über den Vertreter eines Luzerner Eisenwarenhändlers einiges nötige Schreinerwerkzeug, Beschläge, Drahtstifte, Schuhnägel auf Kredit, zahlbar in drei Monaten. Unterdessen musste er nach Emmenbrücke in den militärischen Wiederholungsdienst einrücken. Diese Gelegenheit nutzte er, um an einem Samstagnachmittag seinen Lieferanten, den Eisenwarenhändler, in Luzern zu besuchen. Er wurde im Geschäft herumgeführt und bekam kurze Zeit später Haushaltungsartikel und Werkzeuge im Wert von 200 Franken nach Raron geliefert. Es waren dies nicht nur Artikel, die er fürs Handwerk brauchte. Sein Plan war, im renovierten Haus eine Krämerei zu eröffnen und dort Eisenwaren und Lebensmittel feilzubieten. Aber woher sollte er, mittellos wie er war, Lebensmittel bekommen? Diesmal fuhr er nach Sitten zu einem Händler, von dem die Dorfläden die Waren bezogen. Da der Mann den jungen Ausserberger nicht kannte, verlangte er für den Warenwert einen Bürgen. Hier kam einmal mehr die Unerschrockenheit des jungen Theler zum Tragen. Er begab sich nämlich stracks ins Regierungsgebäude zu Staatsrat4 Leo von Roten und schilderte diesem seine Pläne ebenso wie die finanzielle Notlage. Da von Roten seinen Vater kannte, ging er auf das Ansinnen ein und begab sich als Vermittler zum besagten Händler. Schon Stunden später, schreibt Theler, habe er Lebensmittel aller Art und so viel er wollte verlangen können.

Kurz darauf richteten die Verlobten in einem Nebenzimmer des wieder bewohnbar gemachten Hauses den Kramladen ein. Fortan war Johann Theler abwechselnd Schreiner und Krämer. Aber damit waren sie finanziell keineswegs über den Berg. Der Tag, an dem die erste Faktur aus Luzern zu bezahlen war, rückte näher, ohne dass er im Laden und schreinernd genügend Geld eingenommen hatte. Aber wiederum war ihm das Glück hold. Theler bekam den Tipp, es bei einem Herrn Seiler im Gesch, einem Weiler zwischen Raron und Niedergesteln, zu versuchen. Der habe Geld, und wenn einer verstehe, sich mit ihm gut Freund zu machen, bekomme er Geld. Tatsächlich hörte sich der Mann Thelers Geschichte an. Er kannte sowohl den Vater als auch den künftigen Schwiegervater des Bittstellers. Er zählte ihm schliesslich 500 Franken an lauter Goldstücken auf den Tisch. Eingesteckt habe er sie nicht ohne Sorge, aber nun konnte er nicht nur die fällige Rechnung bezahlen, sondern weitere Haushaltungsgegenstände und Lebensmittel beschaffen und – ebenso wichtig – das Hochzeitskleid für Marjosi, passende Kleider für sich sowie Eheringe kaufen. Auch ein bescheidenes Hochzeitsessen wollten sie ausrichten und kleine Geschenke für die Gäste5 bereitstellen.

Noch stand aber ein weiteres Hindernis im Weg: Als Zivilstandsbeamter von Ausserberg musste Vater Theler die rechtsgültigen Papiere ausstellen, damit die Trauung seines Sohnes in Raron stattfinden konnte.6 Ohne diese Papiere konnte der zivilstandsrechtliche Eintrag nicht vorgenommen werden. Der Vater stellte sich quer, aus Schadenfreude, meint der Sohn. Er habe geglaubt, Marjosi sei schwanger. Würde die Hochzeit verzögert, wäre die Braut bald dem Spott der Leute ausgesetzt; ihr Zustand liesse sich dann nicht verheimlichen.7 Die Vor-Schadenfreude, falls es sie gab, lief ins Leere, denn zum einen war die Braut nicht schwanger und zum andern drohte der Beamte in Raron mit einer Strafanzeige, wenn der Herr in Ausserberg seine Sachen nicht hergeben wolle.

Und die Hochzeit selber? Gerade mal 16 handschriftliche Zeilen gibt es in den «Erinnerungen» darüber:

Jetzt hat es geholfen, das Zivilstandswesen liegt in Butter, und so konnten wir heiraten, am 18. November 1888, gleich nach dem Hochamt, am Feste des Kirchenpatron[s] Roman in der Pfarrkirche in Raron. Die Kirche voll gespickt Volk waren Zeuge. Z’Marjosi und ich haben uns nicht geschämt.

Hochzeit von Maria Josefa Salzgeber und Joh. Chr. Theler 1888. (Quelle: Gisela Macieczyk-Theler, Buenos Aires.)
Hochzeit von Maria Josefa Salzgeber und Joh. Chr. Theler 1888. (Quelle: Gisela Macieczyk-Theler, Buenos Aires.)

An diesem Hochzeitstag in St. German angekommen, nahmen die wenigen geladenen Hochzeitsgäste Platz in unserer neu eingerichteten Wohnstube. Von meinen nächsten Verwandten durfte nur mein Bruder Eduard Platz nehmen, denn meine Vater sagte mir klipp und klar, als ich ihn zur Hochzeit eingeladen hatte: «Nur Eduard darf zu deiner Hochzeit, der ist volljährig, und ich kann ihm das nicht verweigern, aber alle andern Geschwister sind minderjährig. Denen verbiete ich [es] rundweg. Auch ich und die Mutter kommen nicht zu deiner Hochzeit, du Starrkopf.»


  1. Gemeint ist der in der Schweiz und in Südbaden als Schmutziger (Schmotziger) Donnerstag bezeichnete Beginn des Fastnachtstreibens. Es dauert eine Woche später und endet am Tag vor Aschermittwoch. ↩︎

  2. Die Strecke von Ausserberg nach Wiler hin und zurück beträgt ungefähr 40 Kilometer. ↩︎

  3. Maria Josephas Vater Joseph Salzgeber wurde Tschergujosi genannt, weil er im Weiler Tschergen (St. German) wohnte ↩︎

  4. Was in anderen Kantonen ein Regierungsrat, ist im Wallis bis heute ein Staatsrat. ↩︎

  5. Jeder Gast sollte den üblichen Hochzitlumpe, ein Taschentuch oder ein Kopftuch bekommen. ↩︎

  6. Die Thelers waren Bürger von Raron, und der Wohnort St. German der Familie Salzgeber ist ein Ortsteil von Raron. ↩︎

  7. Sollte der Sohn dann die schwangere Frau sitzen lassen? ↩︎