Lebensgeschichten der 13 Töchter und Söhne und deren Nachkommen

Die Geschichte der jüngsten Tochter Isabella (sie wurde fünf Jahre nach der zweitjüngsten geboren) und ihrer beiden noch lebenden Töchter Irene und Gisela ist gut dokumentiert und vermittelt erstaunliche Einblicke weit über das persönliche Leben hinaus. Ich werde deshalb in einem gesonderten Kapitel darüber berichten. Gisela Macieczyk-Theler (GM) und ihre Schwester leben in Buenos Aires. GM stellte mir neben ihrer in Buchform veröffentlichten Biografie zahlreiche Fotos und weiteres wertvolles Quellenmaterial zur Verfügung. Ausserdem erfuhren wir während mehreren Skype-Kontakten noch viel mehr aus ihrem bewegten Leben.)

Im Folgenden soll nun das eine und andere über die Lebensgeschichten (soweit bekannt) der übrigen Töchter und Söhne des Ehepaars Theler-Salzgeber erzählt werden. Der Umfang der Ausführungen hängt von der Quellenlage ab. Dort, wo sozialer Aufstieg besonders eindrücklich ist, berichte ich auch über die Nachkommen. Ihre Geschichten reichen bis in die Gegenwart.

Hier nun ein zweites Mal das Familienfoto aus dem Jahr 1915:

Stehend v.l.n.r.: Hans, Meinrad, Euphrosina, Maria, Regina, Mathilda, Veronika, Josef. Sitzend v.l.n.r.: Kresenzia, Anna, Mutter, Isabel, Vater, Katharina, Luzia.
Stehend v.l.n.r.: Hans, Meinrad, Euphrosina, Maria, Regina, Mathilda, Veronika, Josef. Sitzend v.l.n.r.: Kresenzia, Anna, Mutter, Isabel, Vater, Katharina, Luzia.

Einleitend eine bemerkenswerte Tatsache: Alle 13 Töchter und Söhne waren verheiratet; aus ihren Ehen gingen 20 Kinder hervor, nur sechs mehr als ihre Mutter Maria Josepha selbst zur Welt gebracht hatte. Zwei Söhne und vier Töchter blieben kinderlos.

Regina heiratete im Januar 1915 im Alter von sechsundzwanzig den gleichaltrigen Jakob Nobs.

Das Paar bekam zwei Söhne, Alberto und Johann. Diese schenkten den Eltern zehn Enkel. Albertos Frau Margarita Griss gebar zwischen 1945 und 1965 sechs Söhne und 3 Töchter, Johanns Frau Vanda Platzer bekam einen Sohn. Das erweiterte die Nachkommenschaft der Familie beträchtlich. Sie leben bis heute in Argentinien, die meisten in Misiones. Gemäss einem Enkel des Ehepaars Nobs-Theler sind seine Geschwister noch mehrheitlich direkt oder indirekt in der Landwirtschaft, Viehzucht, Wiederaufforstung und/oder im Handel mit verarbeitetem Holz tätig.

Regina und Jakob Nobs-Theler verkauften um 1960 herum ihr Land und zogen in ein Haus auf dem Hof ihres Sohnes Alberto. Jakob Nobs starb 1968, siebzigjährig, Regina 15 Jahre später im 94. Altersjahr.

Kurzbiografie von Jakobs Bruder Ernst Nobs, der als erster Sozialdemokrat in den Bundesrat gewählt wurde:

Geboren 1886 in der Berner Gemeinde Seedorf1, arbeitete er ab 1906 einige Jahre als Primarlehrer, danach 23 Jahre als Journalist. 1935 wurde er in den Regierungsrat des Kantons Zürich gewählt, dem er sieben Jahre angehörte. Von 1942 bis 1944 war er Zürcher Stadtpräsident. Ausserdem war er von 1919 an während 25 Jahren Nationalrat. 1944 wurde er in den Bundesrat gewählt. Er blieb bis 1951 im Amt.

Das Foto zeigt das Ehepaar Alberto und Margarita Nobs-Griss. Die 9 Kinder schenkten ihnen 24 Enkel. Alberto verstarb 2004 mit 85, Margarita 2010, neunundachtzigjährig. (Foto um 1990.)
Das Foto zeigt das Ehepaar Alberto und Margarita Nobs-Griss. Die 9 Kinder schenkten ihnen 24 Enkel. Alberto verstarb 2004 mit 85, Margarita 2010, neunundachtzigjährig. (Foto um 1990.)

Vom 1961 geborenen Alberto Nobs, dem zweitjüngsten Enkel des Ehepaars Nobs-Griss, erhielt ich im Frühsommer 2022 weiteres Quellenmaterial. Dieses gibt nicht nur über den Zweig der Familie Nobs Auskunft, sondern auch über einzelne Töchter, Söhne und Schwiegersöhne des Auswanderer-Ehepaars Theler. Zum Konvolut gehört ausserdem die Autobiografie seines Onkels Johann (Juan) Nobs. Sie deckt die Zeitspanne von 1922 bis 1947 ab.

Johann Nobs war sechsjährig, als seine Eltern Regina und Jakob im Herbst 1922 mit der zweiten Reisegruppe in Cuña-Pirú eintrafen. Im Kapitel «Zweite Auswanderung» habe ich Joh. Chr. Thelers Ausführungen über die Ankunft der ersten Reisegruppe so paraphrasiert: «Den zwei jüngeren Töchtern, der 16-jährigen Anna und der 13-jährigen Luzia, habe die neue Umgebung gefallen, und sie hätten sich entsprechend gefreut. Die übrigen Familienmitglieder waren enttäuscht, ja empört, als sie sich plötzlich inmitten eines noch kaum gerodeten Urwalds wiederfanden.» Weiteres erfährt man von Theler dazu nicht. Juan Nobs erinnerte sich genauer: Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichten wir den letzten Hügel und sahen von dort etwa 150 oder 200 Meter unter uns, wo der Tucanguá-Bach in den Cuñapirú, mündet, die Lichtung und damit das Ende der langen Reise. Als unsere Mutter die Gruppe von elenden Holzhütten mit Strohdächern und rissigen Latten sah, begann sie heftig zu weinen. Die Umstellung war zu groß; in den vergangenen zwölf Jahren hatte sie sich daran gewöhnt, in einem Haus mit Heizung, Strom, Gas und fliessendem Wasser zu leben. Das harte Leben in Ambrosetti war in ihrer Erinnerung bereits verblasst.2

Die ersten behelfsmässigen Wohnbauten in Cuña-Pirú.
Die ersten behelfsmässigen Wohnbauten in Cuña-Pirú.

Bereits unterwegs waren Befürchtungen bezüglich dessen laut geworden, was die Auswanderer zu erwarten hatten: Am Stadtrand von Rosario sahen wir an einem Abhang einige Hütten aus alten Blechkanistern, und das war der Moment, in dem Mama, die 18 Jahre in Ambrosetti gelebt hatte, uns warnte, dass es vielleicht nicht mehr lange dauern würde, bis wir in sowas Ähnliches einziehen würden. Diese Aussage sorgte für viel Heiterkeit, aber als wir in ihr ernstes und trauriges Gesicht schauten, wurden wir nachdenklich. Es war nicht weit von der Realität entfernt, denn viele von denen, die in den unberührten Hügeln von Misiones als Siedler begannen, hatten während langer Zeit kein wirkliches Zuhause.

Wie sehr sich dem Sechsjährigen die Ankunft einprägte, zeigt eine weitere Textpassage: Nie werde ich das Erscheinen der Verwandten vergessen, die herauskamen und uns begrüssten. Ihre Gesichter und Hände waren geschwollen vom Biss der zahllosen Mbariguim [eine Stechmückenart], ihre Beine aus dem gleichen Grund voll von eiternden Wunden. Sie hatten der Versuchung sich zu kratzen nicht widerstanden.

Die Großmutter, eine grosse, schwere Frau, konnte aufgrund der Stacheln, die ihre Füße verwüstet hatten, kaum Espadrilles tragen.

Der Reisegruppe gehörten auch junge unverheiratete Walliser Männer an, die sich der Theler-Gruppe angeschlossen hatten. Über sie schreibt Nobs: Alle Junggesellen bis auf Richard, den jüngsten, kehrten um. Allerdings kehrte nur einer in die Schweiz zurück, die anderen liessen sich dauerhaft in Rosario, San Jerónimo oder Buenos Aires nieder. Die Verheirateten mit Familie und wenig Einkommen hatten keine solche Alternative. Sie waren definitiv im Paradies gefesselt, das vom optimistischen und visionären Johan Christian Theler so begeistert beschrieben worden war.

Juan Nobs konnte die Geschichte seiner Familie bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Da sich auch da eine Folge von Wohlstand und Armut zeigt, sei sie hier skizziert: Sein Grossvater Hans Rudolf war der Sohn von Eltern mit grossem Vermögen, denn sie besassen grosse landwirtschaftliche Güter, Weinberge (…). Ihnen gehörten ausserdem eine Schmiede, eine Mühle, eine Gerberei und ein Gasthaus, und sie besassen die Trostburg, die noch heute existiert.

Trostburg in Teufenthal, Aargau (heutige Aufnahme; Wikipedia).
Trostburg in Teufenthal, Aargau (heutige Aufnahme; Wikipedia).

Hans Rudolf Nobs war ein gebildeter und kultivierter Mensch, der sich um den Unterricht und das Wohlergehen anderer kümmerte. Wie sein Vater unterstützte er Pestalozzis Schaffen, war sogar dessen persönlicher Freund. Nach dem Tod des Vaters verkauften die zwölf Kinder den Familienbesitz und wanderten nach Kanada aus.

Einer von ihnen, der 1828 geborene Jakob Nobs, kehrte in Begleitung seiner Mutter in die Schweiz zurück und liess sich im bernischen Seedorf nieder. Er heiratete 1860; die Ehe wurde aber zehn Jahre später geschieden. Um den zu grosszügigen und vertrauensseligen Mann hätten sich viele Freunde geschart, die seine «Schwachstellen» ausnutzten. Weil er als Bürge mehrmals die Schulden dieser Leute übernehmen musste, verlor er den ganzen Besitz und arbeitete fortan als Kleinbauer. Gestorben sei er während der Arbeit auf dem Feld, als er dabei war, Kohlköpfe vor Frost zu schützen, indem er sie mit Stroh und Erde zudeckte. Sein 1860 geborener einziger Sohn hiess ebenfalls Jakob. Er wohnte mit seiner Frau Anna Bernet anfänglich in Seedorf, danach in Grindelwald, wo er den Lebensunterhalt als Schneider verdiente. Nach dem Tod des verarmten Vaters habe er einen alten Koffer, einen Amboss, einen Hammer, eine alte Taschenuhr sowie ein leeres Ledertäschchen geerbt. (Der Koffer, heisst es, sei zuvor mehrmals zwischen der Schweiz und Kanada hin und her gereist.) Da er und seine Frau überaus tüchtig waren, hätten sie doch «eine gute Zeit» gehabt.

Das Ehepaar hatte drei Söhne, Ernst (1886), Hans (1888) und Jakob (1889). Die ersten beiden besuchten eine höhere Schule und wurden Lehrer. (Ernst Nobs' spätere politische Karriere wurde schon geschildert.) Der Jüngste, für den das Geld für eine erweiterte Schulbildung nicht mehr reichte, entschloss sich nach der Heirat mit Regina Theler, dem Ruf des Schwiegervaters zu folgen, und wanderte mit ihr und den zwei Söhnen nach Argentinien aus. Damit schliesst sich der Kreis zur bisherigen Geschichte.

Familie Nobs in Grindelwald, hinten Mitte vermutlich Jakob (September 1922).
Familie Nobs in Grindelwald, hinten Mitte vermutlich Jakob (September 1922).

Über den Auswanderer Jakob Nobs, dessen Sohn Juan und das Leben in Misiones – insbesondere über die Schulbildung, die Beziehungen zur Urbevölkerung oder über Tiere im Busch – über dieses und mehr berichtet Juan in seiner Biografie. Dazu werde ich in einem zusätzlichen Kapitel einiges ausführen.

Mathilda wurde wie Regina und Meinrad noch im Wallis geboren (1890). Nach der Rückkehr aus Ambrosetti blieb sie dauerhaft in der Schweiz. Sie wurde Pächterin des Gasthauses in Ausserberg. Verheiratet war sie mit einem Mann namens Martin Stucky. Mathilda brachte sechs Kinder zur Welt. Bei der Geburt von Otto verstarb sie – 41-jährig – am 24. Dezember 1931. Eduard, einer der Söhne des Ehepaars, war jahrzehntelang Direktor der Weinkellereien Aarau. Sein Sohn, Ulrich Stucky, wurde nach dem Studium an der HSG sein Nachfolger. Er ging 2023 in Pension.

Veronika (genannt Neni) wurde im April 1893 geboren. Mit ihr war Frau Theler während der Reise nach Argentinien schwanger. Auch Neni blieb nach der Rückkehr aus Ambrosetti dauerhaft in der Schweiz. Wie schon berichtet, heiratete sie 1920 Alberto Bonizzi. Das Ehepaar wohnte in Zürich, wo sie Lebensmittel aus Italien importierten. Sie taten dies überaus erfolgreich. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg besassen sie ein Haus in Sankt Moritz. Basierend auf Alberto Bonizzis testamentarischer Verfügung errichtete Neni Bonizzi im Alter die nach ihrem Namen benannte Stiftung, in die sie ihr ganzes Vermögen einbrachte. Damit wurden von 1975 bis 2009 wissenschaftliche Forschungsprojekte im Bereich der Medizin gefördert. Von 1988 an vergab die Stiftung ausserdem alle zwei Jahre den Otto Naegeli-Preis. Die mit 200'000 Franken dotierte Auszeichnung war eine der bedeutendsten Wissenschaftspreise der Schweiz. Ausserdem wurde mit 2.5 Mio. Franken die Bonizzi-Theler-Professur für Functional Genomics am gleichnamigen Center der Universität und der ETH Zürich finanziert.

Neni Bonizzi-Theler starb neunundachtzigjährig am 25. November 1982. Kurz vor ihren Tod verkaufte sie das Haus in St. Moritz an ihren Neffen René Theler3. Auch dieses Geld ging an die Stiftung.

Neni und Alberto Bonizzi-Theler in den 20er-Jahren in Venedig.
Neni und Alberto Bonizzi-Theler in den 20er-Jahren in Venedig.

Maria, geboren am 5. November 1894, fuhr im Herbst 1922 mit der 2. Reisegruppe nach Misiones. Wie oben erwähnt, schrieb ihr Vater, sie sei «weggelaufen». Sie heiratete Federico Odemann und führte in Candelaria eine Pension Das Ehepaar blieb kinderlos. Auch über ihre Geschichte ist bis jetzt nichts weiter bekannt, auch nicht das Todesjahr.

Euphrosina, geboren am 5. Dezember 1896, heiratete vor der Rückkehr nach Misiones Theophil Werlen. Das Ehepaar blieb kinderlos. Auch für Werlen, schreibt Theler, habe er ein Stück Land erworben. In den «Lebenserinnerungen» weiss er nicht viel Positives über ihn zu berichten. Werlen habe die Landwirtschaft aufgegeben, nachdem er vom Schwager Krumkamp im Dorf ein Stück Boden und ein Magazin erworben habe. Bekannt ist aber, dass Euphrosina nach seinem Tod (1955) die Ölbaum-Plantage weiterhin betrieb. (Man sehe sich das entsprechende Foto im Kapitel «Zweite Auswanderung» an.)

Juan Nobs portraitiert den Schwager seiner Mutter in einem kurzen Beitrag unter dem Titel «Ein philanthropischer Kegler». Darin zeichnet er im Gegensatz zu seinem Grossvater ein positives Bild von ihm.

Nach der Ankunft der Reisegruppe im Herbst 1922 habe Werlen Karl Krumkamps Hof mit dem gesamten Inventar gekauft. Sie alle hätten in den ersten Monaten dort gelebt. Zu Krumkamps Anwesen gehörte auch eine Bowlingbahn. «Don Teófilo» sei dort «definitiv Kegler» geworden. Als Ladenbesitzer und Betreiber der Kegelbahn habe er Eier, Hühner, Bohnen, Schweinefett und dgl. zum Tauschwert entgegengenommen, denn Geld habe man noch keines gehabt. Darum sei in Form von Tauschhandel gewirtschaftet worden. Die entgegengenommenen landwirtschaftlichen Erzeugnisse habe Werlen auf Packeseln, dann mit dem Auto und später mit einem Kleinlaster zum 30 km entfernten Hafen gebracht, um sie gegen Lebensmittel, Kolonial- und Eisenwaren einzutauschen. Einige Siedler hatten jedoch in den Anfangsjahren wenig oder nichts zum Tauschen. Ihnen habe Werlen zwar nur das Notwendigste gegeben, aber auch so seien die ausstehenden Schulden beängstigend angewachsen. Das habe ihn mehrmals nahe an den Rand des Bankrotts gebracht. Irgendwie habe er sich immer wieder daraus herauszuarbeiten vermocht.

Teophil Werlen (an den Baum gelehnt) mit dem Hirten Santiago Alvarez (vermutlich ganz rechts) und seinen Gehilfen.
Teophil Werlen (an den Baum gelehnt) mit dem Hirten Santiago Alvarez (vermutlich ganz rechts) und seinen Gehilfen.

Auch die Gruppe der Cainguás-Indianer gehörten zu Werlens Kundschaft. Sie brachten ihm wildes Gras, Häute, Körbe und weitere von ihnen hergestellte Artikel zum Tausch gegen Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände. Mit den Eingeborenen zu handeln und wieder zu handeln, habe Werlen genossen. Er sei «den Kindern des Berges» so sehr verbunden gewesen, dass er sie mit Nahrungsmitteln und Chinin versorgte, als sie während einer Malaria-Epidemie darniederlagen und weder jagen noch fischen konnten. Während Wochen habe er sie täglich in den weit entfernten Siedlungen aufgesucht. Alle hätten überlebt. Später ordnete ihr Häuptling an, so lange Yerba zu liefern, bis die Schulden beglichen waren.

Indigene der Cainguás, die zu Theophil Werlens Kundschaft gehörten.
Indigene der Cainguás, die zu Theophil Werlens Kundschaft gehörten.

Juan Nobs rühmt auch den Idealismus und die optimistische Vorausschau des Mannes. Er habe alles Mögliche getan, von dem er Fortschritt erwartete, sei dabei aber weder wohlhabend geworden noch zu Ehrungen gekommen. Wer ihn gut gekannt habe, erinnere sich «liebevoll an ihn» - im Wissen darum, wie viel Gutes er für die Bedürftigsten von Cuña-Piru getan habe. (Die sowohl von Werlen als auch von Krumkamp mit ihrem Hitler-Bärtchen angedeutete politische Haltung wird auch Juan Nobs mit keinem Wort erwähnt. Sie scheint im Umgang mit beiden damals kaum eine Rolle gespielt zu haben.)

Werlen und seine Frau dürften mit der Zeit zu Erspartem gekommen sein. Vermutlich auch dank des Sägewerks, das sie, wie Alberto Nobs berichtet, gemeinsam mit seinem Vater in Cuña-Piru geführt hätten. (Den Laden hatte Theophil Werler zu dieser Zeit vermutlich aufgegeben.) Jedenfalls konnten sie sich gegen Ende der 30er-Jahre gemeinsam mit Kresenzia und deren Tochter eine Reise in die Schweiz leisten. Dabei waren sie auch bei den Bonizzis in St. Moritz zu Gast.

Euphrosina überlebte ihren Mann um 24 Jahre. Sie starb 1979 im 83. Altersjahr.

Zu Besuch bei Bonizzis in St. Moritz (vermutlich vor Kriegsausbruch 1938 oder 39). V.l.n.r.: das Ehepaar Werlen, Neni Bonizzi, Kresenzia mit Tochter Lia.
Zu Besuch bei Bonizzis in St. Moritz (vermutlich vor Kriegsausbruch 1938 oder 39). V.l.n.r.: das Ehepaar Werlen, Neni Bonizzi, Kresenzia mit Tochter Lia.

Meinrad, geboren am 16. Juni 1898, war nach einer Kinderlähmung leicht gehbehindert. Das beeinträchtigte ihn aber wenig. Als die Familie 1920 ins Wallis zurückkehrte, besuchte er in Brig das Gymnasium und studierte danach an der ETH in Zürich Bauingenieur. Kurz nachdem sein Vater und sein Bruder Joseph wieder nach Argentinien gereist waren, schloss er das Studium ab. Damals steckte die Schweiz in einer wirtschaftlichen Krise. Meinrad fragte darum den Vater, ob es in Argentinien anders sei, ob er dort als Ingenieur eine Anstellung bekommen könnte. Erst nachdem der Vater nach Misiones gereist und entschlossen war, die Familie nachkommen zu lassen, erhielt Meinrad eine ermunternde Antwort. Er traf denn auch mit der 1. Gruppe in Cuña-Pirú ein, aber wie im früheren Kapitel dargelegt, zerschlug sich die Hoffnung, dort Arbeit zu finden. Vorerst half er dem Schwager Krumkamp bei Landvermessungsarbeiten am Rio Paraná. Er sah seine Zukunft nicht in Misiones, sondern in Buenos Aires. Bevor er dort Arbeit suchte, reiste er zu seinem Bruder nach Ambrosetti, um ihn bei der Rekultivierung zu unterstützen. In der Tat fand er danach in Buenos Aires eine Anstellung in einer Baufirma, in der er es schliesslich bis an Spitze schaffte. Wie Gisela Macieczyk-Theler erzählt, habe er sich als Bauingenieur mit aussergewöhnlichen Konstruktionen einen Namen gemacht. Sie spricht von einer Art hängender Gärten. Auch das Haus, das ihre Eltern in Buenos Aires zu Beginn der 50er-Jahre kurz nach der Ankunft aus der Schweiz (wiederum als Auswanderer!) bauen liessen, habe Meinrad entworfen. Mit 44 Jahren verheiratete er sich mit Johanna Wyss. Das Ehepaar blieb kinderlos. Ihre weiteren Lebensdaten liessen sich bisher nicht ermitteln.

Hochzeitsfoto von Johanna Wyss und Meinrad Theler, 1942.
Hochzeitsfoto von Johanna Wyss und Meinrad Theler, 1942.

Joseph, geboren am 16. Oktober 1900, starb schon im Februar 1950. Von seiner Geschichte ist über das hinaus, was bereits über ihn erzählt wurde, fast nichts bekannt. Nachdem er die Farm in Ambrosetti verlassen hatte, begab er sich wie sein Bruder nach Buenos Aires. Er soll dort eine Pension geführt haben. Im Alter von 28 heiratete er Gisela Scheittler. Auch dieses Paar blieb ohne Nachwuchs.

Kresenzia, geboren am 2. November 1902, wurde einundneunzigjährig. Wie schon ihr Vater in den «Lebenserinnerungen» festhielt, war sie es, die ihm und Joseph als 18-Jährige nach Ambrosetti nachreiste, um dort den Haushalt zu führen und auch ausserhalb kräftig Hand anzulegen. Wahrscheinlich war sie auf Druck des Vaters wieder nach Argentinien gereist. Wie er selbst festhielt, ‘befahl’ er ihr etwa zwei Jahre später, kaum hatte er in Cuña-Pirú Land erworben, ihm dorthin zu folgen. Schon zwei Tage nach der Ankunft nahm sie den Heiratsantrag des Landvermesser Karl Krumkamp an (er hatte ihrem Vater das Land zugeteilt). Vielleicht auch deshalb, weil sie so den bevorstehenden Strapazen bei der Waldrodung entfliehen konnte. Die Heirat fand kaum einen Monat später statt, und da Krumkamp bald zum Administrator befördert und versetzt wurde, nahm das Ehepaar in Puerto Rico Wohnsitz. Dort betrieben sie in der Folge ihr eigenes Gästehaus, das Hotel Suiza.

Kresenzia gebar zwei Töchter und einen Sohn, Lia, Andrea und Carlos. Von Lia ist bekannt, dass sie als junge Frau bei einem Schönheitswettbewerb obenaus schwang.

Im Vordergrund Kresenzias Tochter Lia mit Sohn Federico; im Hintergrund das Hotel Suiza (Aufnahme um 1950).
Im Vordergrund Kresenzias Tochter Lia mit Sohn Federico; im Hintergrund das Hotel Suiza (Aufnahme um 1950).

Nach Krumkamps frühem Tod (vor 1940) führte Kresenzia das Hotel bis mindestens in die frühen 80er-Jahre. Jedenfalls konnte Klaus Anderegg dort noch mit ihr sprechen, als er damals in Misiones über die Walliser Auswanderer Quellenmaterial zusammentrug.

Wie gross die Nachkommenschaft des Ehepaars Theler innerhalb von zwei Generationen geworden war, trotzdem ihre Söhne und Töchter nur insgesamt 14 Kinder hatten, zeigt eine Aufnahme anlässlich von Kresenzias 80. Geburtstag aus dem Jahr 1982:

Misiones 1982: 80. Geburtstag von Kresenzia Krumkamp-Theler. (Ganz links am Tisch sitzt ihre Tochter Lia.)
Misiones 1982: 80. Geburtstag von Kresenzia Krumkamp-Theler. (Ganz links am Tisch sitzt ihre Tochter Lia.)

Hans wurde im Mai 1904 geboren. Er starb 1998, vierundneunzigjährig.

Über seine Lebensgeschichte ist im Kontext der 2. Auswanderung schon einiges ausgeführt worden. Auch dass er nach der Rückkehr in die Schweiz das Gymnasium besuchte, sich danach kurz in Misiones aufhielt, um anschliessend an der Universität Zürich Jurisprudenz und Ökonomie zu studieren. Er machte Karriere bei der Basler Nationalversicherung. Hans war vermutlich zielstrebiger unterwegs als sein Buder Meinrad. Jedenfalls brachte er es zu beachtlichem Vermögen; ihm gehörte schliesslich ein bedeutender Aktienanteil der Nationale Suisse. (Juan Ramon und René, zwei seiner drei Söhne, vermochten das Ererbte noch zu vermehren.)4

Auch Hans Theler schrieb eine Biografie. Daraus ein paar Daten: Auf seine Dissertation über die Schweizer Bundesbahnen wurde der Direktor einer Grossbank aufmerksam. Der vermittelte ihn an die eben genannte Versicherungsgesellschaft in Basel. Es wurde erwartet, dass er das bis anhin kleine Unternehmen deutlich voranbringen würde. Vorerst wurde der junge Ökonom auf Ausbildungs- und Wanderjahre in europäische Städte geschickte. In Berlin lernte er Alice Wiskemann, seine künftige Ehefrau, kennen. Die beiden verbrachten auf Thelers «Organisationsreisen» auch zwei Jahre in verschiedenen Provinzen Spaniens. (In Argentinien aufgewachsen, sprach Hans Theler perfekt Spanisch.) In Madrid kam 1932 der erste Sohn Juan Ramon, drei Jahre später – diesmal in Berlin – als Zweitgeborener René zur Welt. 1939 musste die Familie den Aufenthalt in Mailand des drohenden Krieges wegen abbrechen. (Zuletzt war Theler zwischen Mailand und Basel gependelt.) Während er in Basel die Übersiedlung vorbereitete, brachte seine Frau in Mailand Marco, den dritten Sohn, zur Welt.

Am 11. Mai 1939 erfolgte Hans Thelers Ernennung zum Direktor. Man mache sich keinen falschen Vorstellungen; die damalige Versicherung war ein noch unbedeutendes Unternehmen. Die einzelnen Abteilungen waren in zwei Einfamilienhäusern und in einer alten Villa untergebracht. In der Rückschau schildert Hans Theler auch Anekdotisches, etwa wie er und sein stellvertretender Direktor einen Generalagenten auf dem Weissenstein besuchten. Die erste Strecke legten sie mit Fahrrädern zurück, dann nahmen sie den Zug, und den letzten Teil legten sie auf Schusters Rappen zurück.

Den gemächlichen Trott, den er in der National vorfand, war für den jungen Direktor ungewohnt. Sein forscheres Tempo veranlasste den eben genannten Stellvertreter schon nach wenigen Monaten, um vorzeitige Pensionierung nachzusuchen. Ihr Hetztempo halte ich nicht durch, soll er seinen Wunsch begründet haben. Die zwei blieben gleichwohl Freunde.

Zur schweren Hypothek für das Unternehmen wurde, dass es bei einem deutschen Konzern rückversichert war. Die National stand deshalb während des Krieges auf der «Schwarzen Liste» der Alliierten. Den auf 25 Jahre abgeschlossen Vertrag aufzulösen, war nicht möglich. Ich hätte meine Stelle nicht angetreten, wenn mir diese Verträge bekanntgewesen wären, hält Theler fest. Die Blockierung liess einen Teil der Kundschaft abwandern. Im Jahr 1943 war die National praktisch pleite, heisst es weiter. Ende Monat habe manchmal das Geld für die Löhne gefehlt. Erst der Zusammenbruch Deutschlands brachte die Befreiung für das schwer handicapierte Unternehmen. Von der Schwarzen Liste würde die Versicherung jedoch erst gestrichen, wenn sie 25'000 Pfund englische Kriegsanleihen zeichne. Dies bekam er als Antwort, als Theler beim britischen Botschafter in Bern vorsprach. Die Reaktion auf seine Rückfrage im Bundeshaus kam prompt: Was die Briten verlangten, sei mit der schweizerischen Neutralität nicht vereinbar. Theler ging das Risiko trotzdem ein; er unterschrieb, und wenige Wochen später stand die National nicht mehr auf der ominösen Liste.

In den 50er-Jahren begann der Aufschwung der Versicherungsgesellschaft. Haupttreiber war Thelers erfolgreiche Kapitalanlagepolitik. Da die Länder ringsum nach dem Krieg in Trümmern lagen, die Schweiz dagegen über ein intaktes Industriepotenzial verfügte, sah er voraus, dass man am Wiederaufbau Europas würde mitarbeiten und verdienen können. Also Liegenschaften bauen und kaufen und Aktien guter Unternehmungen, wenn nötig auf Pump! Und möglichst festverzinsliche Papiere. Das war seine Devise. Diese Politik sei die Grundlage gewesen für »die finanzielle Erstarkung der Gesellschaft in den Nachkriegsjahren». Im Übrigen hatte er bereits während des Krieges den Verwaltungsrat vom Bau eines Verwaltungsgebäudes überzeugen können. Das war nicht nur ein finanzielles Risiko, sondern auch deshalb gewagt, weil es an Baumaterial fehlte. Um «einige hundert Säcke Zement und ein paar Tonnen Armierungseisen» zu beschaffen, sei er gemeinsam mit dem Basler Baudirektor beim Berner Kriegswirtschaftsamt auf Betteltour gegangen.

Dass er kein Zögerer war, zeigte er schon kurz nach der Übersiedlung nach Basel. Weil er sich für die Familie ein eigenes Dach über dem Kopf wünschte, kaufte er in Binningen eine 3'000 Quadratmeter grosse Bauparzelle. Dabei fehlte ihm das Geld. Weder das in Berlin angesparte Kapital in Deutscher Mark noch die Ersparnisse in Lira liessen sich in die Schweiz transferieren. Sein Vater streckte ihm 20'000 Franken vor, und für den Rest hatte er dank seiner beruflichen Stellung wenig Mühe, Kredite zu bekommen. «Kredit» sei schon immer mehr wert gewesen als Geld, hält er fest. Jedenfalls konnte die fünfköpfige Familie schon im Frühjahr 1940 ins Haus an der Benkenstrasse einziehen.

Hans Theler legte grossen Wert auf Seriosität. In einem Beitrag zum 100-jährigen Jubiläum der Gesellschaft schrieb er 1983 unter anderem, das Ziel der National sei nicht in erster Linie die Expansion, vielmehr wolle sie eine «mittlere, gutfundierte Gesellschaft» sein.

Hans Theler mit dem Vater, der Schwester Neni und dem ältesten Sohn Juan Ramon um 1950.
Hans Theler mit dem Vater, der Schwester Neni und dem ältesten Sohn Juan Ramon um 1950.
Hans Theler, 1985.
Hans Theler, 1985.

Der Landbesitz seiner Eltern in Cuña-Pirú wurde 1960 von Schwester Regina und ihrem Mann Jakob verkauft. Ein Jahrzehnt später investierte Hans Theler nun jedoch selbst Geld in Misiones; er kaufte am Rio Paraná 1200 Hektaren Wald – umgerechnet eine Fläche von 12 Quadratkilometern! Die Beweggründe sind nicht bekannt; es dürfte sich um eine Kapitalanlage gehandelt haben. Da der Wald reich an wertvollen Hölzern war, rechnete er wohl zumindest mittelfristig mit Ertrag. Die Verwaltung (Waldpflege bzw. -bewirtschaftung umfassend) übergab er gegen Entschädigung jemandem aus der Nachkommenschaft der Thelers. Selbst war er nur ein einziges Mal vor Ort. Dabei erkannte er nicht, dass er einem betrügerischen Verwalter aufsass. Denn die Edelhölzer wurden nach und nach gefällt und abtransportiert, und zwar nicht, wie später kolportiert wurde, von Paraguayern, die das Holz über den Paraná flössten. Sondern von in der Holzindustrie tätigen ansässigen Schweizern und Deutschen. Der Verwalter erhielt von ihnen gutes Geld fürs Wegschauen.

Das Grundstück ging schliesslich in den Besitz von René Theler und danach an dessen Sohn Michel über. René Theler besuchte den Wald in den späten 80er-Jahren ein erstes und wenige Jahre danach ein zweites Mal. Diesmal auf Drängen seines Sohnes Michel mit dem Ziel, den Verwalter zu feuern und Alberto Nobs mit der Aufgabe zu betrauen. (Tito Nobs, wie er geheissen wird, ist Michel Thelers Cousin 2. Grades resp. Cou-Cousin. Von ihm habe ich nebst Quellenmaterial zahlreiche weitere Informationen erhalten. Auch das folgende Bild.)

Mit Tito Nobs hat Michel Theler seither einen ausgewiesenen Holzfachmann vor Ort.

Luftaufnahme mit dem Rio Paraná und der abgeholzten und wiederaufgeforsteten Waldfläche (erworben von Hans Theler, heute im Besitz eines von dessen Enkel Michael geleiteten Unternehmens).
Luftaufnahme mit dem Rio Paraná und der abgeholzten und wiederaufgeforsteten Waldfläche (erworben von Hans Theler, heute im Besitz eines von dessen Enkel Michael geleiteten Unternehmens).

Nobs bewirtschaftet auch eigene Waldgrundstücke. Auf dem Besitztum des Cou-Cousins hat er, wie er schreibt, alle Aufgaben rund um die Rodung und die Wiederaufforstung übernommen. Angepflanzt werden hauptsächlich Kieferarten. Für periodisches Ernten und den Holzverkauf ist er ebenfalls verantwortlich. Er und der Cou-Cousin aus der Schweiz informieren sich regelmässig gegenseitig. In einer Mail im August 2022 schrieb Michel Theler: Ich war selber sicher schon 10x in Misiones und weiss mittlerweile ziemlich genau, wer uns damals das Holz gestohlen hat.

Alberto Nobs mit Kiefersetzlingen (Bild 2022).
Alberto Nobs mit Kiefersetzlingen (Bild 2022).

Der Werdegang von Juan Ramon, René und Marco (Söhne von Hans und Alice Theler-Wiskemann)

Juan Ramon und René Theler studierten an der Hochschule und schlossen als promovierte Ökonomen ab. Ihr Vater bereitete sie auf eine Karriere in der Versicherungsbranche vor. In seine Fussstapfen trat jedoch Ende der 60er-Jahre nur René, während Juan Ramon nicht auf die berufliche Erfolgsspur des Vaters einschwenkte.

Wohlstandsauswanderung?

Sein Vater und der Präsident des Verwaltungsrates der National-Versicherung sahen Juan Ramon wegen dessen Sprachbegabung und Kommunikationskompetenz als einen künftigen Kadermann, ja als den Generaldirektor einer internationalen Rückversicherungs-Gesellschaft. Die entsprechende Grundausbildung sollte der junge Mann während Aufenthalten in England und Amerika erhalten. Er scheint damals den ihm vorgegebenen Weg auch selbst verfolgt zu haben. Nach fünf Wanderjahren – zuletzt in Guatemala, wo er in der Leitung einer Tochtergesellschaft mitarbeitete – rief man ihn in die Schweiz zurück. Sein Vater schrieb rückblickend, sie hätten geglaubt, er sei nun soweit. Aber der Sohn weigerte sich, die bereitstehende Karriereleiter zu besteigen. Er überraschte den Vater mit der Aussage, er würde als künftiger Generaldirektor doppelt so viel verdienen wie er, der Vater, jedoch nur halb so viel arbeiten müssen; das interessiere ihn nicht. Erst nach den Ausbildungsjahren wisse er, was ein solcher Job bedeute. Gott mit Dir mein Sohn!, habe er als Vater geantwortet.

Juan Ramon wanderte nach Mallorca aus. Aber nicht mittellos wie ehedem sein Grossvater nach Südamerika. Der Vater stellte ihm buchstäblich ein Betätigungsfeld zur Verfügung, und zwar in Form einer von ihm erworbenen 200 Hektar grossen Finca bei Manacor. Zum Anwesen gehörte ein «Herrenhaus» aus dem 17. Jahrhundert.

Wie Juan Ramon 2010 in einem Beitrag von «SRF unterwegs» erzählte, verstand er sich damals als Aussteiger. Er wollte auf der Finca ein bäuerlich geprägtes Hippieleben führen. Unerfahren, wie er war, meinte er, dort Kühe halten und Milch produzieren zu können. Aber Gras wächst auf dem trockenen Boden nicht, ausser man bewässert die Felder mit Grundwasser. Das macht weder ökonomisch noch ökologisch Sinn. Inzwischen verheiratet mit Loretta Prinzessin zu Sayn-Wittgenstein5, restaurierten er und seine Frau das Gebäude und erweiterten es zum vornehmen Gästehaus. Ausserdem liessen sie ringsum einen Neun-Loch-Golfplatz anlegen. Resultat: das Nobelresort La Reserva Rotana.6 (Für den Golfplatz wird nun allerdings mehr Grundwasser gepumpt, als es für eine bäuerliche Bewirtschaftung gebraucht hätte, aber an den notwendigen Einnahmen mangelt es bis heute nicht.) Die Bautätigkeit war damit noch nicht beendet; Juan Ramon und Loretta trennten rund ums Golfgelände zahlreiche Parzellen von je rund 20'000 Quadratmetern ab und bauten darauf Villen. Im Februar 2009 berichtete die «Bilanz» von einem dieser Traumhäuser mit 500 Quadratmetern Wohnfläche, vier Schlafzimmern und eigenem Weinberg mit 600 italienischen Rieslingrebstöcken direkt vor der Haustür. Nachdem die ersten Häuser rasch finanzkräftige Käufer gefunden hätten, erreichte die Baukrise auch Mallorca. Jetzt bekam man eine Villa statt für 3,15 Millionen Euro bereits für 2,4 Millionen. Im Übrigen veranschlagte das Wirtschaftsmagazin damals Juan Ramons zum Teil ererbtes Vermögen auf 200 bis 300 Millionen Franken. Wie sein Bruder war auch er Grossaktionär der Nationale Suisse.

Den ältesten Sohn des Ehepaars Theler-Wiskemann als Auswanderer zu bezeichnen wie seinen Grossvater, wäre irreführend. Joh. Chr. Theler war Ende des 19. Jahrhunderts nach Argentinien emigriert, weil er sich so aus der Armut zu befreien hoffte. Die Motive seines Enkels waren anderer Art; Juan Ramon wanderte aus, weil er nicht so leben wollte, wie es sein Vater für ihn vorsah und weil dieser über genügend Mittel verfügte, ihm ein alternatives Lebensmodell zu finanzieren. Sich als bäuerlicher Aussteiger zu versuchen, passte zum gesellschaftlichen Aufbruch dieser Zeit, als es vielen jungen Leuten darum ging, dem Leben einen neuen Sinn zu geben. Für ein Leben im Überfluss hatten viele von ihnen Ende der 60er-Jahre wenig übrig. Ein finanzielles Risiko ging Thelers ältester Sohn ja nicht ein. – Bereits in ihrer Jugend hatten er und sein Bruder René sich im Umfeld der Jeunesse dorée getummelt. In St. Moritz zum Beispiel gehörten sie dem exklusiven Kreis der Bobfahrer an und pflegten Umgang mit Leuten wie Gunter Sachs. (Zu dieser Zeit besass ihr Vater im Nobelort eine Wohnung; später erwarb er das Haus seiner Schwester Neni Bonizzi.) Bobfahren war damals ein Sport für wohlhabende Sprösslinge. Dass Juan Ramon 1957 Weltmeister im Viererbob, sein Bruder ein Jahr darauf und wiederum 1959 jeweils Europameister sowie zweimal Schweizer Meister wurde, bedeutete nur, als dass sie aus einem kleinen Kreis von besonders privilegierten jungen Männern herausragten. Gunter Sachs, auch er einmal Bob-Europameister, gehörte auch später noch zum engen Freundeskreis von Juan Ramon. Man traf sich nicht nur auf dessen Luxus-Anwesen auf Mallorca. Cha cha, wie er im Freundeskreis genannt wurde, soll zwischen der Finca, St. Moritz und Ibiza gependelt sein. Er wurde als Mallorcas Jetset-König bezeichnet.

Im erwähnten TV-Beitrag gab sich der Neunundsiebzigjährige als Grandseigneur. Das Bemühen tiefzustapeln war augenfällig; er und seine Frau Loretta präsentierten sich als Menschen wie du und ich. Beide strotzten vor Lebensfreude. Als die Kamera zu einigen der erlesenen Einrichtungsgegenstände schwenkte, bemühten sie sich, diese zum zusammengetragenen «Plunder» herunterzustufen.

Ein Jahr später war Juan Ramon Theler tot. An Krebs erkrankt, hatte er seinem Leben mit einem Karabiner ein Ende gesetzt. (Ein halbes Jahr zuvor hatte Gunter Sachs dasselbe in Gstaad getan.) In den Medien wurde seiner mit viel Sympathie gedacht. Jemand schrieb, Juan Ramon Theler habe zwar zum Jetset gehört, sei aber nie ein Playboy gewesen. Das hätte seiner guten Erziehung und Bildung widersprochen.

Im Unterschied zu seinem Bruder setzte René Theler den Weg des Vaters bei der Nationale Suisse fort. Er wurde 1972 im Alter von 37 Generaldirektor des Unternehmens. Ab 1985 gehörte er dem Verwaltungsrat an und mit 60 übernahm er dessen Präsidium. In Basel bewegte er sich auch im Umfeld des Sports; er war von 1976 bis 1980 Präsident des FCB. Während dieser Zeit wurden aus Amateuren Profifussballer. Die von Helmut Benthaus trainierte Mannschaft gewann während seiner Präsidentschaft zweimal die Meisterschaft.

Im Zusammenhang mit den Recherchen zu den Auswanderer-Geschichten lernte ich René Theler persönlich kennen. Ich suchte weiteres Quellenmaterial über seinem Grossvater und wollte den Enkel auch über ihn erzählen lassen. Weil er und seine zweite Ehefrau zwischen verschiedenen Wohnsitzen pendelten oder auf Reisen waren, musste ich mich gedulden. Schliesslich konnte ich ihn in der Wohnung eines seiner modernen Mehrfamilienhäuser am Zürichberg besuchen. Er zeigte sich dem Anliegen gegenüber offen, hatte aber nur vage Erinnerungen an den Grossvater. Dafür übergab er mir Quellenmaterial, auch ein Buch mit den handschriftlichen «Lebenserinnerungen» aus den späten 1930er-Jahren. Diese wurden die Grundlage zur hier vorliegenden Auswander-Geschichte des Johan Christian Theler.

René Theler ist am 7. Juli 2022 im Alter von 86 Jahren verstorben.

Armer, lieber Cochi, Du warst ein so gutes Kind! Mit einem Lied gingst Du zu Bett und mit einem Jauchzer standest du auf. So schreibt Hans Theler in einem briefähnlichen Rückblick über den verstorbenen jüngsten Sohn Marco. Dessen Leben ist eine immens traurige, ja tragische Geschichte. Er war sieben bzw. vier Jahre jünger als seine beiden Brüder und scheint mit ihnen ausser den sportlichen Talenten nicht viel Gemeinsames gehabt zu haben. Der Vater beschreibt Marco als einen aussergewöhnlichen Skifahrer und tollen Reiter; ausserdem habe er eine Begabung gehabt für alle leichtathletischen Disziplinen. Sonst aber vermochte er den Erwartungen des Vaters nicht zu genügen. Schulisch anscheinend weniger begabt als die Brüder, war ihm ein konfliktfreier Bildungsgang verwehrt. Den Entschluss, ihn als Internen ins Lyceum Alpinum Zuoz zu stecken, bezeichnet der Vater im Rückblick selbst als «unglückliche Idee». In den ersten Weihnachtsferien erlebte die Familie einen verschlossenen und mürrischen Jungen, ging aber den Ursachen nicht auf den Grund. Auch später nicht, als Marco nach dem ersten Schuljahr zum Vater sagte, er lasse sich von ihm eher totschlagen, als dass er nach Zuoz zurückkehre. Die Eltern erfuhren nie, was im Internat vorgefallen war. (Hans Theler schreibt, Marco habe ihm die Gründe nie verraten.)

Das Lyceum Alpinum war schon damals ein international ausgerichtetes Elitegymnasium. (Elite v.a. in Bezug auf die Kaufkraft der Eltern, nicht so sehr bezogen auf das schulische Potenzial der Zöglinge.) Während seine Brüder sich als Erwachsene in einem kleinen Kreis reicher junger Männer bewegten, lebte Marco unfreiwillig inmitten einer grossen Zahl pubertierender Teenager. Ausserdem erschwerten es ihm die kognitiven Fähigkeiten, den gymnasialen Anforderungen mühelos zu entsprechen. Für den feingliedrigen und eher verschlossenen Jungen dürfte das Internat ein Alptraum gewesen sein.

Wer Musils Roman «Die Verwirrungen des Zöglings Törleß» aus dem Jahr1906 kennt, kann sich ein ungefähres Bild machen über das Konfliktpotenzial in einem derartigen Internat, auch wenn der Roman zu dieser Zeit bereits ein halbes Jahrhundert alt war und es im schweizerischen Zuoz die von Musil geschilderten autoritären Strukturen so vermutlich nie gab oder nicht mehr gab.

Der Vater hätte seinen Jüngsten nun am liebsten einen handwerklichen Beruf lernen lassen; einen Elektriker als Lehrmeister hatte er bereits gefunden. Der «Familienrat» habe aber beschlossen, Marco die Hotelfachschule in Lausanne besuchen zu lassen. Bei grossen Einladungen habe er wie seine Brüder als Kellner ausgeholfen und sei jeweils durch seine Eleganz aufgefallen.

Beim Schlussexamen in Lausanne fiel Marco durch. Er habe sich als Versager gefühlt, ja als das schwarze Schaf der Familie. Und er habe zu trinken angefangen. So der Vater.

Die Eltern bezahlten ihm ein Flugticket nach Buenos Aires und liessen ihn mit einem Verwandten dorthin reisen. Das missverstand der Sohn. Weil es kein Rückreiseticket war, glaubte er, die Familie wolle ihn abschieben. Ich schwöre Dir, lieber Cochi, dass ich niemals auch nur einen Augenblick daran gedacht habe, beteuert der Vater rückblickend. Vielmehr hätten sie angenommen, er würde die Rückreise in Etappen machen und zum Beispiel in Guatemala seinen Bruder «Hädy» (Juan Ramons Kosename) besuchen.

Marco Theler zwischen seiner Tante Katharina und ihrem Ehemann Valentin Hack im argentinischen Rosario um 1960.
Marco Theler zwischen seiner Tante Katharina und ihrem Ehemann Valentin Hack im argentinischen Rosario um 1960.

Bei der Rückkehr nach Basel waren die Eltern abwesend. Die Hausangestellte hatte ihnen Marcos Telegramm nicht ausgehändigt. In seiner Enttäuschung betrank sich Marco und verursachte daraufhin einen Autounfall, was der Vater mit einem Hausverbot quittierte. Die Mutter blieb in Kontakt mit ihm, konnte aber ihren Mann nicht zur Aussöhnung bewegen.

Eines Nachts – Marco hatte bei Freunden wiederum viel getrunken – stürzte er vom Balkon einer Wohnung im fünften Stock.

Gegen Schluss des Briefes an den toten Sohn schreibt der Vater: Und ich bin an allem schuld! Ich hatte nicht die Geduld und habe zu wenig getan, um Dir den Glauben und die Gewissheit zu geben, dass Du anders warst als Deine Brüder, aber genauso geachtet und wertvoll. Du warst mein liebster Bub, aber ich fand die Sprache nicht, es Dir zu sagen … und heute ist es zu spät.

Hans Theler gibt seinem Schmerz über den Verlust des Sohnes und über seine Mitschuld in ungewöhnlicher Offenheit Ausdruck. Das ist ebenso eindrücklich wie seine Berufskarriere.

Anna, geboren am 18. Mai 1906. Die viertjüngste Tochter des Ehepaars Theler-Salzgeber heiratete mit 20 Walter Herzog, den Sohn von Schweizer Auswanderern. Das Ehepaar verliess Misiones und kehrte einige Zeit später in die Schweiz zurück. Luzern wurde ihr neuer Wohnort. Walter Herzog handelte schon in Argentinien und später auch in Luzern mit Gütern verschiedenster Art, auch mit Uhren. Das Paar blieb kinderlos. Ihre Sterbedaten konnten bisher nicht ermittelt werden.

Hochzeitsfoto von Anna Theler und Walter Herzog, 1926 in Misiones.
Hochzeitsfoto von Anna Theler und Walter Herzog, 1926 in Misiones.

Katharina, geboren am 25. Mai 1908, war verheiratet mit Valentin Hack. Auch sie verliessen nach der Hochzeit Misiones und lebten später in Rosario. Dort arbeitete Hack als selbständiger Herrenschneider. Katharina gebar 1940 einen Sohn, Albert (siehe nächstes Bild). Ihre Sterbedaten konnte ich bis jetzt ebenfalls nicht ausfindig machen.

(Das vorletzte Bild zeigt das Paar gemeinsam mit Marco Theler.)

Albert Hack (links) und Hans Macieczyk (Ehemann von Isabella Theler) um 1970.
Albert Hack (links) und Hans Macieczyk (Ehemann von Isabella Theler) um 1970.

Luzia, geboren am 17. Oktober 1909. Sie heiratete den ein Jahr älteren Hermann Ammann. Gemäss Alberto Nobs führte das Ehepaar in Ruiz de Montoya einen Gemischtwarenladen. Sie waren es, die den Landbesitz von Luzias Eltern verkauften.

Luzia brachte zwischen 1930 und 1935 drei Töchter zur Welt, Ines, Yvonne und Carlotta. Hermann Amman starb vierundsiebzigjährig 1982, Lucia 1995, sechsundachtzigjährig.

Fotos des Paares fehlen.

Isabella, geboren am 1. Januar 1914. Sie starb, hundertundeinjährig, am 11. März 2015. Ihre Geschichte sowie die ihrer beiden Töchter Irene und Gisela wird, wie oben ausgeführt, in einem eigenen Kapitel erzählt werden.


  1. Über die weiter zurückliegende Herkunft der Familie Nobs später mehr. ↩︎

  2. Die Zitate entsprechen meiner Übersetzung des von Juan Nobs' Sohn Pedro in den 1990er-Jahren auf der Grundlage der Notizen und Aufzeichnungen des Vaters ausformulierten und redigierten Textes. ↩︎

  3. René Theler ist am 7. Juli 2022 verstorben. ↩︎

  4. Vor Jahren wurde Hans Thelers Sohn René von der «Bilanz» in der Liste der 300 reichsten SchweizerInnen aufgeführt. Zu diesen gehörte auch Renés Bruder Juan Ramon. ↩︎

  5. Die deutsche Adelige, geboren 1942, heiratete mit 24 Jahren einen Adeligen, ab 1974 war sie in 2. Ehe mit Juan Ramon Theler verheiratet. Sie brachte die Noblesse ihrer Eltern in die Ehe, er das Geld seines Vaters. ↩︎

  6. Fotos und weitere Informationen zum Resort findet man im Internet in grosser Zahl. ↩︎