Zweite Rückwanderung in die Schweiz
Obwohl er nach neun Jahren der Kolonisation in Cuña-Pirú eine positive Bilanz ziehen konnte, gebraucht er in den Aufzeichnungen kurz danach zum zweiten Mal fast dieselbe Formulierung: So wurstelten wir 9 Jahre lang, bis ich wieder den Löffel fallen liess und davonlief. Er verwendet denselben pejorativen Ausdruck wie seinerzeit für die Arbeit als Ackerbauer und Viehzüchter in Ambrosetti. Der Jerba-Anbau, die Viehzucht und die Milchwirtschaft entwickelten sich zwar durchaus erfreulich, aber der Arbeitsaufwand wurde zur zunehmend grösseren Belastung. Nacheinander verliessen vier der fünf Töchter Cuña-Pirú. Von Maria, der Viertältesten, schreibt ihr Vater, sie sei weggelaufen. Sie war wenig über 30 und hatte vermutlich genug davon, täglich von morgens bis abends neben dem nimmermüden Vater zu schuften. In Cuña-Pirú hatte sie kaum eine Zukunft. Im Wallis war sie mit dem Gastgewerbe vertraut geworden. Wohl deshalb nahm sie im 80 km entfernten Candelaria Wohnsitz1, wo sie in der Folge eine Pension führte.
![Die Töchter und Schwiegersöhne des Ehepaars Theler 1923. V.l.n.r.: Isabella, Luzia, Katharina, Anna, Maria, Kresenzia, Karl Krumkamp, Euphrosina, Theophil Werlen, Regina, Jakob Nobs.](../images/image6.jpeg)
Ihre drei 12 bis 15 Jahre jüngeren Schwestern Anna, Katharina und Luzia hatten geheiratet. Auch sie waren weggezogen. Nun waren Johan Theler und die Tochter Isabella die einzigen Arbeitskräfte auf der Farm. Die Arbeit wuchs den beiden über den Kopf. Erschwerend kam hinzu, dass Maria Josepha schon während längerer Zeit kränkelte. Eine Diagnose vermochte der Provinz-Arzt nicht zu stellen. Aus Zürich hatte ihnen Tochter Neni Bonizzi in der Zwischenzeit einen Ausweg eröffnet; sie sollten in die Schweiz zurückkehren und in Zürich Wohnsitz nehmen. Dort sei die ärztliche Versorgung sichergestellt, und im Familienbetrieb gebe es genug Arbeit, sowohl für den Vater als auch für Isabella. In der Folge entschloss sich das Ehepaar, gemeinsam mit der jüngsten Tochter nicht nur die Farm, sondern Argentinien zu verlassen. Den Schwiegersöhnen Krumkamp und Werlen wurde sämtliches Land, 96 Hektar, Betriebsmaterial und Viehstand, 50 Stück an der Zahl (...) zur Verwaltung übergeben.
Für die Vieh- und Milchwirtschaft auf der Farm wurde eine Familie eingestellt. Mit den zwei Schwiegersöhnen schloss Theler einen Sechs-Jahres-Vertrag. Darin hielt er fest, dass die Einnahmen in den Betrieb zu investieren seien, insbesondere in die Pflege resp. Kultivierung der Jerba-Pflanzungen, in die Verbesserung der Weideflächen sowie in die Förderung des Viehstands.
Ein Jahrzehnt später zieht der Chronist dann ein betrübliches Fazit: Heute ist das Land zur Verwaltung in fremder Hand. Auf Erwartung, es würde doch niemals etwas einbringen. Krumkamp ist tot, Werlen davongelaufen.2 Viehstand ist kein Stück mehr da. Was die bauliche Infrastruktur und die Pflanzungen betraf, so seien diese sehr verhunzt und vernachlässigt.3
Was war in der Zwischenzeit aus der Farm in Ambrosetti geworden? Die hatte Theler verkauft, vermutlich als sie rekultiviert war, bzw. als Joseph die Absicht hatte, sich wie sein Bruder Meinrad in Buenos Aires niederzulassen. Verglichen mit dem im Jahr 1909 verlangten Preis von 48'000 Pesos war der schliesslich erzielte Erlös von 40'000 Pesos beachtlich (was auch für die erfolgreiche Rekultivierung spricht). Die Hälfte der Summe wurde in Cuña-Pirú investiert, 14'000 Pesos nahm das Ehepaar nach Zürich mit, und die restlichen 6'000 Pesos bzw. 12'000 Franken, schreibt Theler, habe er verbraucht, verloren und angelegt.
Schon zu Beginn der Rückreise gab es bezüglich Maria Josephas Gesundheitszustand Entwarnung. Ein Arzt in Buenos Aires diagnostizierte Diabetes. Wegen der bis dahin falschen Ernährung hatte sich ihr Zustand verschlimmert. Da sie nun Diät hielt, ging es ihr rasch besser. Jedenfalls konnte das Paar 1938 bei bester Gesundheit goldene Hochzeit feiern.
Das Ehepaar Theler-Salzgeber um 1938.
Auch die Menükarte anlässlich der Goldenen Hochzeit ist erhalten geblieben:
Zurück ins Jahr 1930, dem Jahr des Abschieds aus Argentinien.
In Buenos Ayres hatten wir nicht nur Glück gehabt, dass die Krankheit der Mama entdeckt wurde, wir waren auch glücklich, dass unser Sohn Meinrad mir angeraten hatte, mein Guthaben von 14'000 Pesos, die ich an Sedular (Staatsgelder, Staatsgutscheine) angelegt hatte, zu verkaufen und mitzunehmen.
Für diese Sedular wurde regelmässig 6 % Zins ausbezahlt, jedes halbe Jahr. So hatte ich Lust, das Geld in Argentinien zu lassen und unbekümmert dem Papa Staat anvertrauen wollen. Meinrad dachte anders und sagte mir: Nimm dieses Geld mit, man kann dieser Bande nicht trauen, die gegenwärtig am Ruder sind. Wirklich, die Regierung [...] ist gestürzt worden, und die Sedolar sind futsch. Heute hätte ich nichts davon. Dazumal gab der Peso 2 Schweizer Fr., und so bekam ich 28'000 Fr., die ich seither, hier in Zürich als Kapital versteuere.
Gute Fahrt machten wir auf einem (Einheitsdampfer) Monte Sarmiento bis Hamburg. Unser Sohn Johann mit Frau Alis [Alice Wiskemann] aus Berlin und unsere Tochter Veronika mit Neffe Viklos aus Zürich kamen auf Deck zu unserem Empfang. Das war ein angenehmes Zusammentreffen. Tochter Veronika mit ihrem Gemahl Bonizzi haben in Zürich ein blühendes Lebensmittelimport-Geschäft. In dies Geschäft wurde ich eingestellt als Magazin Gefl. und Isabel4 fand Verwendung [!] im Bureau. Jetzt, nach 9 Jahren, sind wir noch im selben Dienst. – In später verfassten Nachträgen hält er fest, in Zürich sei er zehn Jahre Magazinchef gewesen.
Argentinien in den 1930er-Jahren
1930 befand sich Argentinien in einer wirtschaftlichen Depression. Der 78-jährige Präsident Hipolito Yrigoyen (Mitglied der Radikalen Bürgerunion) hatte nicht die Kraft, sich den zunehmend politisch agierenden Generälen entgegenzustellen. Im September kam es zum Militärputsch. Trotzdem sollte das demokratische System beibehalten werde. Als 1932 Wahlen durchgeführt wurden, kamen die Konservativen dank Wahlbetrug zurück an die Macht. (Sie vertraten in erster Linie die Interessen der Landoligarchie.) Der Betrug wurde gar nicht bestritten, sondern damit gerechtfertigt, das argentinische Volk sei noch nicht reif für die Demokratie.
Bei Historikern gelten die Regierungen dieses Jahrzehnts denn auch als illegitim.
(Mit der Bezeichnung «diese Bande» meinte Meinrad Theler offensichtlich die Regierung von Hipolito Yrigoyen.)
![Das Ehepaar mit v.l.n.r. Vreni, Hans, Alice Wiskemann und Isabella in den 30er-Jahren.](../images/image12.jpeg)
In der Tat arbeitete Johan Theler bis ins 74. Altersjahr im Geschäft der Tochter und des Schwiegersohns. 1935 ging er ein weiteres Mal auf eine Reise; diesmal als Tourist, ohne seine Frau. Er verfasste unter dem Titel «Orient Reise 1935» darüber einen 48-seitigen Reisebericht. Darin heisst es zu Beginn:
Es ist schon lange her dass ich wünschte eine Reise ins hl. Land machen zu dürfen. Nun kam der heis ersehnte Wunsch u ich konnte verreisen am 15. September 1935.
(…)
Die kleine Karawane besteht aus 9 Personen, 3 Priester, 5 Fräulein u der Schreibende, eine nette Reisegesellschaft wärend der ganzen Orientreise. (…)
Die Gruppe reiste via Neapel und Athen in den Nahen Osten, ins Gebiet des heutigen Israel und Ägypten. Zum historischen Kontext dies: Drei Wochen nach Reisebeginn überfiel das faschistische Italien Abessinien. Tatsächlich beobachtete die Reisegruppe im Hafen von Neapel, wie italienische Soldaten «mit hängenden Köpfen» ein Kriegsschiff bestiegen.
Über die Reise will ich hier nicht weiter berichten. Denkbar ist aber, dass ich die Schilderungen, die mir im Original vorliegen, später in Auszügen online stelle, eventuell auf der Webseite mit einigen unserer persönlichen Reiseblogs.5
Bemerkenswert ist im Übrigen die Tatsache, dass Joh. Chr. Theler seine «Lebenserinnerungen» ins gleiche Buch schrieb wie den eben genannten Bericht. Allerdings erst 1938/39, Jahre später. Als Illustration zur Reise sei hier ein Foto der Gruppe gezeigt:
![](../images/image13.jpeg)
Das Ehepaar Theler verbrachte den Lebensabend in Zürich. Das ist allerdings eine ungenaue Formulierung. Maria Josephas Ehemann dachte auch mit 74 nicht daran, sich zur Ruhe zu setzen. Vielmehr zog es ihn zurück ins Wallis. In einem Nachtrag zu den «Lebenserinnerungen» – nun in zittriger Handschrift – hält er 1939 fest, die jüngste Tochter Isabel sei inzwischen 25, und so habe man ihr eine günstige Heiratsgelegenheit nicht verweigern können.6 Plötzlich sind wir 2 Alten Erzieher von 13 erwachsenen (...) Kindern verlassen. Und dies weckte seine Sehnsucht so recht wieder nach dem Wallis.
Wie sein ganzes Leben lang schritt er einmal mehr unverzüglich zur Tat. Er kündigte die Stelle bei Tochter und Schwiegersohn und auf einen etwas späteren Zeitpunkt auch die Zürcher Wohnung. Gleichzeitig holte er die Aufenthaltsbewilligung sowie den Heimatschein und sagte dem schönen Zürich Lebewohl. Den ganzen Monat Juli suchte ich im Wallis zu kaufen oder zu mieten eine Wohnung nebst einem schönen Gemüse- und Obstgarten, wobei Bienen- und Hühnerzucht wie auch etwas Schreinerwerkzeug und Hobelbank nicht fehlen durften. So wollte er die letzten Kräfte in selbstständiger Willensfreude aufbrauchen. Die Annahme ist kaum spekulativ, dass Maria Josepha in Zürich bange Juli-Wochen durchlebte in der Hoffnung, dass die Suche im Wallis nicht zum Erfolg führen würde. Tatsächlich fand er nichts dieser Art Passendes und kehrte nach Zürich zurück. Den Misserfolg rationalisierte er damit, dass die Mama, immer der ärztlichen Behandlung bedürftig, in Zürich in dieser Hinsicht gut am Platz ist. (Was zuvor seine Überlegungen anscheinend kaum beeinflusst hatte.) Ausserdem sei er vom Schwiegersohn im Magazin vermisst worden. So kehrte er am 1. Juli wieder an die alte Stelle zurück. Die neu erwachten Erinnerungen an Ausserberg trügen aber viel dazu bei, dass er sich in Zürich heimatlos finde und fühle. Wie lange er noch im Magazin arbeitete, ist nicht bekannt. Immerhin hatte er noch viel Lebenszeit vor sich. Maria Josepha verstarb am 30. Januar 1948 im 81. Altersjahr, Johan Christian Theler starb 89-jährig am 9. März 1955.
Von den 13 Kindern blieben neun in Argentinien. Auch deren Nachkommen leben bis heute dort.
Der Philologe Peter von Matt hat einmal «Auszug und Heimkehr» als das bezeichnet, was «seit je die Schweizer Existenzformel» gewesen sei – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.7 Mit den zwei Aus- und Rückwanderungen entsprach das Ehepaar Theler-Salzgeber dieser Existenzweise im persönlich-konkreten wie im symbolischen Sinn.
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Die Kleinstadt liegt in der Nähe der Provinzhauptstadt Posadas direkt am Rio Paraná. ↩︎
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Wie im vorangehenden Kapitel schon angemerkt, ist dies eine missverständlichen Aussage. Das Ehepaar Werlen-Theler gab die eigene Plantage nicht auf. Nach dem Tod ihres Mannes führte Euphrosina diese bis ins hohe Alter weiter. (Mehr über Theophil Werlen im nächsten Kapitel.) ↩︎
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Die 96 ha Land sind heute nicht mehr im Besitz von Thelers Nachkommen; sie wurden in den 1960er-Jahren von Jakob und Regina Nobs-Theler verkauft. (Mehr dazu im nächsten Kapitel.) ↩︎
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Isabel ist die jüngste Tochter, die mit den Eltern in die Schweiz zurückreiste. ↩︎
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Sie sind zu finden unter velokoller.github.io. ↩︎
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Ihre (äusserst ungewöhnliche) Geschichte wird in einem eigenen Kapitel erzählt. ↩︎
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Peter von Matt. Das Kalb vor der Gotthardpost. 2012, S.97. ↩︎