Mein Freund [...], trauere nicht um uns, die wir auswandern können ...
Die Emanzipation der Josephine Gentinetta aus Glis (1877 – 1939)
Von der aus Glis stammenden Ordensfrau und Lehrerin in Süd-Dakota sind nur wenige Dokumente erhalten. Ihr Grossneffe Klaus Anderegg hat den Nachlass bei seiner Tante Olga Gentinetta einsehen und auswerten können. Im Jahr 1994 gestaltete er im Radio DRS 1 ein Feature über sie.
Bei den Dokumenten handelt es sich um eine 127-seitige Broschüre «Aus der Alten in die Neue Welt», verfasst von der jungen Frau nach ihrer Reise vom Wallis in die Vereinigten Staaten sowie um eine kleine Zahl von Briefen und Ansichtskarten an ihre Walliser Verwandten. Erhalten sind auch einige Fotos. Der Nachlass befindet sich heute in der Sammlung des kantonalen Museums für Geschichte in Sitten.
Für meinen Text liegen mir die Briefe und Ansichtskarten sowie Andereggs Textauszüge aus dem Reisebericht vor. Die «Reisenotizen» bezeichnet der Ethnologe Anderegg zu Recht als ein «intimes Dokument der Befindlichkeit einer jungen Frau». Ich will versuchen, aus der Broschüre und den Briefen mehr über die Persönlichkeit von Josephine Gentinetta herauszuarbeiten. Letztlich möchte ich verstehen, warum sich die zur Lehrerin ausgebildete Frau entschloss, in die USA zu emigrieren und dort Benediktinerin zu werden. Und auch, ob und wie sie als Ordensfrau am neuen Ort ihre Identität fand. Als Verfasserin des Reiseberichts weist sie sich als sprachlich versierte Beobachterin aus. Schon als 19-Jährige verfügte sie über ein beachtliches Reflexionsvermögen. Dass sie bereits entschieden hatte, Nonne zu werden, darauf käme man bei der Lektüre des Textes kaum.
Josephine Gentinetta, geboren 1877 in Glis1, war das jüngste Kind von Moritz und Genoveva Gentinetta-Rauch. Die Gentinettas stammten aus dem italienischen Bognanco-Tal westlich von Domodossola, während Genoveva Rauch aus dem Tirol zugezogen war. Die Familie hatte sieben Kinder, fünf Buben und zwei Mädchen. Als Erwachsene arbeiteten drei von Josephines Brüdern den Sommer über als Bergführer in Zermatt. Mit Emil, dem ältesten – Josephine war acht Jahre jünger als er –, verband sie eine besonders enge Beziehung. Das lag auch daran, dass er sie während ihrer Ausbildung zur Lehrerin finanziell unterstützte.
1896 entschloss sie sich, nach Amerika zu emigrieren und dort Ordensfrau zu werden. Äusserer Anlass war die Begegnung mit zwei Benediktinerinnen aus Yankton (Süd-Dakota), die in die Schweiz reisten, um für die Klostergemeinschaft «The Sacret Heart» Kandidatinnen zu werben.
Überseeische Klostergründungen im 19. Jh.
Im Jahr 1841 kam es im Gefolge des Kulturkampfes in der Schweiz im Kanton Aargau zur Aufhebung der Klöster. Betroffen waren u.a. die Benediktinerklöster Muri, Hermetschwil und Fahr, die Kapuzinerklöster Baden und Bremgarten, ebenso das Chorherrenstift in Baden. Das Vorgehen der Aargauer Behörden sorgte in den übrigen Kantonen und selbst im benachbarten Ausland für Aufruhr. Eine Zeitlang war gar ein militärisches Eingreifen von Seiten Österreichs zu befürchten. Zwei Jahre später kam es im Aargauer Grossen Rat zum Kompromiss. Die Frauenklöster wurden wieder zugelassen, die Männerklöster jedoch blieben geschlossen. Diese Erfahrungen mögen mit ein Anlass gewesen sein, dass 1857 zwei Baldegger Schwestern, ermuntert von einem Mönch des Klosters Engelberg, im hoch über dem Engelbergertal gelegenen Niederrickenbach das Kloster Maria Rickenbach gründeten. 17 Jahre später erfolgte eine Tochtergründung in den USA, in Nodaway County (Missouri). Schon zuvor war es im Nachgang zum Kulturkampf von der Schweiz aus zu Neugründungen von Männerklöstern in den USA gekommen. (Die fünf von Niederrickenbach ausgeschickten Nonnen reisten denn auch vorerst nach Maryville (Missouri), wo sie die Mönche von Neu-Engelberg in der Missions- und Schultätigkeit unterstützen sollten.) 1880 schliesslich erfolgte die Zweiggründung des Klosters «Sacret Heart» in Yankton. Bis 1891 reisten 27 Schwestern von Maria Rickenbach dorthin.
Die Mitbegründerin des Nidwaldner Klosters stand in den späten 1880er-Jahren dem Kloster in Yankton vor. Von hier aus erwarb sie 1890 das Schlossgut Wikon im Kanton Luzern, um daraus ein Benediktinerinnenkloster und ein Erziehungs- und Missionsinstitut zu machen. Das Hauptziel war, Schweizer Kandidatinnen auszubilden und mit ihnen den Nachwuchs in Yankton sicherzustellen. (Dieses Ziel fiel in der Folge weg; das Institut diente ab dann bis 2003 als Mädchenschule.)
Die Werbetour der beiden Nonnen aus Yankton von 1896 war erfolgreich. Sie konnten im Herbst des gleichen Jahres von Basel aus mit 20 Kandidatinnen, unter ihnen Josephine Gentinetta, in die USA reisen. Die eine Werberin, Schwester Mathilda Cattani, bereiste die Schweiz später ein weiteres Mal, mit dem gleichen Anliegen. Sie setzte auch Anzeigen in die Lokalpresse, so am 28. Januar 1903 in den «Walliser Boten»:
Was mag eine junge Frau, die eben das Lehreinnenseminar abgeschlossen hatte, in schriftlichen oder mündlichen Werbungen dieser und ähnlicher Art angesprochen haben? In den Reisenotizen schreibt sie, bis kurz vor diesem Zeitpunkt habe sie nichts weniger gedacht «als an ein Kloster». Besonders anziehend sei ihr «die freie Welt» erschienen, wo jeder Vogel fliegt, wohin er will, und jeder Stadtbürger sein Häuschen hat, wo es ihm gefällt. Plötzlich sei aber in ihr das Verlangen nach etwas Besserem und Höherem erwacht. Und als mir die Gelegenheit geboten wurde, in einen Orden einzutreten, ergriff ich diese sofort mit Entschlossenheit und freudiger Begeisterung.
Wie passt das Verlangen nach einem Leben in freier Welt zur Verpflichtung, ein «eifriges Ordensleben» zu führen? Gar nicht, ist man versucht zu sagen, aber die junge Frau aus Glis erwähnt auch das erwachende Verlangen nach etwas Besserem und Höherem (was als religiöse Motivation erscheint). Ich gehe jedoch davon aus, dass der Eintritt in einen Orden weniger das Ziel als vielmehr das Mittel war, das Mittel (auch wenn es paradox erscheinen mag) zu einem freieren Leben. Als Pädagogin hätte Josephine Gentinetta im Oberwallis oder anderswo in der katholischen Deutschschweiz zweifelsohne eine Anstellung gefunden. Gerade als Dorfschullehrerin wäre sie jedoch ins Normenkorsett der damaligen Zeit gezwängt worden. Belesen, wie sie schon als junge Frau war, stand ihr die Enge einer solchen Existenz ohne Zweifel lebhaft vor Augen. Wie sie Jahrzehnte später ihrer Nichte in einem Brief schreiben wird, arbeitete sie in der Zeit kurz vor ihrer Emigration denn auch nicht im erlernten Beruf, sondern als Telegrafistin in Zermatt. Der Ort war schon damals ein touristischer respektive bergsteigerischer Hotspot, besonders für Gäste aus dem englischen Sprachraum. (Sechs Jahre nach der Erstbesteigung standen 1871 kurz nacheinander bereits zwei Frauen, eine Britin und eine Amerikanerin, auf dem Gipfel des Matterhorns.) Mehr über ihre Arbeit und den Aufenthalt in Zermatt erfährt man aus ihren Texten nicht, aber es ist davon auszugehen, dass die Arbeit einer Telegrafistin im Bergsteigerort zur bäuerlich-kleinbürgerlichen Welt in Glis in deutlichem Kontrast stand. Es scheint, dass sich Josephine Gentinetta mit der Emigration in die Vereinigten Staaten zuallererst ein Leben in einer freieren Welt versprach. Auch wenn das den Eintritt in ein Kloster bedeutete. Als Benediktinerin würde sie zwar auch zum erwähnten «eifrigen Ordensleben» verpflichtet sein, aber entscheidend dürfte gewesen sein, dass sie als Lehrerin arbeiten würde. (Zu dieser Zeit und bis weit in die 2. Hälfe des 20. Jahrhunderts waren es auch in manchen katholischen Orten der Schweiz Nonnen, die auf Primarschulstufe, aber auch in Lehrerinnenseminaren unterrichteten. In Giswil (OW) zum Beispiel waren es «Menzinger Schwestern». Sie lebten da durchaus ihre Freiräume.) Darum meine ich, dass die Aussage, sie habe «nach etwas Besserem und Höherem» gestrebt, nicht nur religiös gedeutet werden muss.
Aus der ‘Alten’ in die ‘Neue’ Welt
Wie man später aus Briefen erfährt, missbilligte zumindest Emil, der älteste Bruder, ihre Emigrations- und Klosterentscheidung. Darum lässt sich die quasi-religiöse Begründung auch als Rechtfertigung gegenüber der Familie, aber auch gegenüber sich selbst verstehen. Eltern, Geschwister, Verwandte und Bekannte würden den Reisebericht zu lesen bekommen. (So hält sie am Anfang fest, dass sie ihn für alle Verwandten und Bekannten schreibe.) Wer ihren Entscheid kritisierte, musste sich die Frage gefallen lassen, wie sich das mit der Wertehaltung gläubiger Katholiken, die sie zweifellos alle waren, vertrug. Aber auch die künftige Nonne trug die Werte in sich, die sie in der erzkatholischen Oberwalliser Umgebung schon mit der Muttermilch aufgenommen hatte. So liest man denn schon am Textanfang über die Frauenklöster der Urschweiz, die schon seit ein paar Jahrzehnten ihre tüchtigsten Kräfte nach Amerika gesandt, mit der Weisung, daselbst neue Asyle für Jugendbildung und Krankenpflege zu erstellen. Sie schreibt, sie gehöre nun zu den «Auserwählten», obwohl sie nicht wisse, wie sie in diese klösterliche Armee geraten sei. Das klingt, abgesehen vom letzten Ausdruck, konventionell. Wenig später dann die Schilderung einer Szene im Basler Bahnhof vor dem Grenzübertritt nach Deutschland:
Es war ein Glück, daß die jungen Herren Basels noch nicht auf den Beinen waren und unseren Aufzug sahen, sonst wären sie sicher in Klage und Jammer ausgebrochen «über den unersetzlichen Verlust».
Ein junger Bahnangestellter, der frisch und schnell des Weges daherschritt, schaute beim Schimmer der Straßenlaternen mit Neugierde auf mich und meine schönere Gefährtin. In seinem Antlitz war etwas von Mitleid und Erbarmen ausgeprägt. Als erfahrener Bahnangestellter kannte er ohne Zweifel unser Vorhaben und unser Reiseziel. Es schien mir, als wollte er sagen: «O wie schade ist es für diese Schweizertöchter, daß sie ihr Vaterland verlassen und in ein fernes, stilles Kloster ziehen!» Mein Freund, so hätte ich ihm sagen mögen, trauere nicht um uns, die wir auswandern können, sondern bemitleide vielmehr diejenigen, die zurückbleiben müssen. O es gibt in der Schweiz noch genug Jungfrauen, denen das Glück beschert sein wird, später einmal als Frauen von den treu und zärtlich liebenden Ehemännern getäuscht, betrübt, bedrängt, bedrückt, geplagt, gequält, gemartert zu werden. Und könnten jetzt auch Frauen, frei wie wir, mit uns auswandern, o wie viele (...)? [unleserliche Stelle] Und was fragt endlich das «teure» Vaterland (ich denke an die gutbezahlten Bundesräte und Obersten) nach uns? Der Bürger hat eigentlich nur statistisch eine Bedeutung. Man zählt ihn, mißt ihn, besteuert ihn, entledigt ihn eines Teiles seines Erwerbs - und läßt ihn dann laufen. Wenn nun bei der nächsten Volkszählung ich nicht mehr in Brig, Kanton Wallis, bin, so wird das Civilstandsamt in Brig eben eine Person weniger anzeichnen und das statistische Bureau in Bern eine Walliserin weniger einbuchen - und damit ist die Sache, in Betreff meiner, perfekt abgeschlossen.
Höchst erstaunlich, dass sich eine kaum 20-jährige Walliserin am Ende des 19. Jhs. so bestimmt auszudrücken erlaubt. Hier schreibt keine religiöse Schwärmerin, sondern eine junge Frau, die dabei ist, den patriarchalen und obrigkeitsdominierten Verhältnissen der Schweiz zu entfliehen. Sie schreibt inhaltlich zugespitzt, mit sarkastischem Unterton. Sie gestaltet aus der zufälligen Begegnung eine fiktive Kurz-Szene mit dem jungen Bahnangestellten, den sie zum Repräsentanten heimatlicher Überheblichkeit macht (die, nebenbei gesagt, uns bis heute mitprägt), um mit ihrem Urteil dagegenzuhalten. Zwei Bilder fallen besonders auf: das der unterdrückten Ehefrauen und jenes der Mächtigen und Wohlhabenden, die sich einzig für statistische Werte, besonders jedoch für Steuereinnahmen interessieren würden, nicht jedoch für die Lebensbedingungen einfacher Bürgerinnen und Bürger.
Mit dem Weg ins Kloster sichert sich Josephine Gentinetta auch gegen ein späteres Dasein als Ehefrau ab. Mit der Drastik der attributiven Partizipien für die Ehefrauen wird der Ausdruck «zärtlich liebende Ehemänner» als Euphemismus gekennzeichnet und die Auswanderung als Akt der Befreiung. Das bedeutet nicht, dass die Junge Walliserin die Schweiz frohen Herzens verlässt. Der Abschied von den Angehörigen und Bekannten, hält sie fest, habe sie in eine tiefe, unbesiegbare Wehmut versenkt. Und als sie im Zug in Richtung Antwerpen Platz genommen hatten, brach der Schmerz durch:
Ich hätte, ich muß es bekennen, in diesem Augenblick laut aufschreien mögen; ich hätte noch einmal den Boden küssen mögen, wo meine Wiege gestanden, den Fleck Erde, den ich meine Heimat nannte und den ich nun auf lange, auf immer verließ.
Durch gemeinsames Singen verschafften sich die Frauen Erleichterung. Besonders als Anna Wyrsch aus Nidwalden ein spezielles Lied anstimmte:
Vo mine Bärge mueß i scheide,
Wo's gar so liebli isch und schön,
Cha nümme i der Heimat bleibe,
Mueß i die witi Ferni geh'n.
Alle hätten sie kräftig in den Jodler eingestimmt, was sie rasch in eine heitere, frohe Stimmung gebracht habe. (Den Verlust der Walliser Berge verwand Josephine Gentinetta allerdings nie.)
Geburts-, Tauf- und Impfschein im Gepäck, fuhr sie ab Basel einem neuen Lebensabschnitt entgegen. Den ersten kurzen Aufenthalt in Strassburg nützten die Frauen für die Besichtigung des Münsters, einzelne auch für eine Spaziergang den Schaufenstern entlang. Sie sahen verlockende Gewänder, Stoffe und Leckereien. Schon in der vorangegangenen Nacht hatte die künftige Nonne von Dingen geträumt, die sie in Basel bewundert hatte, von Pomeranzen, Korallenketten, Ohrringen, Basler Seidenbändern u.a.m. Wieder erwacht, hatte sie nichts davon in den Händen. Ihr Geist jedoch, schreibt sie, war doch immer im Besitz dieser schönen Dinge. Als sie in Strassburg beim Schaufensterbummel ins (Tag)Träumen geriet, erhielt sie von der Gefährtin einen leichten Seitenstoss, der sie aus den Träumen und Wünschen geweckt habe. Sie will allerdings nicht falsch verstanden werden:
Das Wohlgefallen, das wir Frauenpersonen an hübschen Stoffen, feinen Spitzen, goldenen Ketten, Korallenschnüren, Diamantringen u.d.gl. haben, ist sicherlich keine Eitelkeit, sondern nur Schönheitsgefühl; die Gelehrten nennen es ästhetischen Sinn.
Für alles, was gut, schön, geziemend, symmetrisch, harmonisch sei, hätten Frauen viel mehr Sinn als die Männer. Das ist zweifellos überspitzt ausgedrückt, aber damit markiert die Verfasserin den Abschied aus der Männerwelt. Angesichts der mächtigen Festung (mit der 15'000 Mann starken Garnison) in Strassburg schreibt sie, sie würde auch als echte Elsässerin, voll von schönen Erinnerungen an Frankreichs gloire, wegen alter Rache gewiß keine Revolution anzetteln und keinen Krieg heraufbeschwören.2 Zwar werde es noch lange dauern, bis die Frauen an der Spitze stünden, aber wenn das geschähe, so gäbe es gewiß gar keine Kriege mehr auf der Welt. Bei gesellschaftspolitischen Reflexionen dieser Art überrascht es nicht, dass sie auch über alternative «Staatseinrichtungen» nachdachte. Zum Anlass wurde ein banales Geschehen im Zug. Sie hatte keine Zwischenverpflegung dabei, und es dauerte längere Zeit, bis sie von einer Gefährtin ein Milchbrötchen und etwas Wein bekam. In diesem Kontext referiert sie den folgenden Gedankengang:
Ich dachte: wie schön ist doch der Communismus, d. h. jene (geträumte) Staatseinrichtung, wo jeder Bürger an den Gütern der andern partizipiert! der Reiche gibt von seinem Überflusse den Andern und eben dadurch sind Alle wohlhabend und es gibt keine Armen mehr. Wie gut wäre ich daran, wenn einmal die Güter der menschlichen Gesellschaft unter die einzelnen Menschen gleichmäßig verteilt würden, so ungefähr, wie soeben die Milchbrötchen (...) verteilt worden sind! Jetzt besitze ich augenblicklich wenig, eigentlich gar nichts – wenn aber eine gerechte und gründliche Teilung der Güter tatsächlich stattfände, so bekäme ich, nach meiner Berechnung, auf einen Schlag circa 5000 Fr. – und mit diesem kleinen Privatvermögen wäre ich vorläufig zufrieden.
Besitzlosigkeit (als Klosterfrau) ist keineswegs ihr Ideal, aber dass es in einer klösterlichen Gemeinschaft kaum soziale Unterschiede gibt und alle an den gemeinschaftlichen Gütern partizipieren, dürfte bei ihrer Reflexion mitgespielt haben. Gegen das Ideal der «Weltharmonie» verstossen ihren Betrachtungen gemäss auch die Staatsgrenzen. Den Zollbeamten im Hafen von Antwerpen nennt sie ein notwendiges Übel, einen Widersacher der erträumten Harmonie. Und es fällt ihr auf: Wenn man höflich gegen ihn ist, so wird er grob, ist man grob gegen ihn, so wird er höflich. Dieser Erkenntnis fügt sie eine ironische Betrachtung hinzu:
Ein Zollbeamter ist immer fürstenfreundlich, vaterlandstreu und unbestechlich, nimmt aber auch ein Trinkgeld an, wenn er demselben absolut nicht ausweichen kann. Wie lange die Spezies der Zollbeamten noch bestehen werde, wissen die Naturforscher, speziell die Zoologen nicht, nur darin sind [sich] alle Gelehrten einig, daß, wenn die Zollbeamten und Zollwächter einmal aussterben, das goldene Zeitalter anbrechen wird.
Das mag naiv klingen, aber als Botschaft an die Angehörigen und Bekannten war es auch eine Form der Selbstdefinition. Die junge Frau verliess das überkommene Alte (nicht nur des Wallis), weil sie ein Amerika der dynamischen Veränderungen erwartete, d.h. eine andere, eine fortschrittliche Welt. Das vertrug sich durchaus mit dem Wechsel in ein offenes Kloster. Gerade hier schien ein gewisses Mass an Autonomie möglich.
In diesem Zusammenhang erhält der Titel des Reiseberichts eine tiefere Bedeutung. «Aus der ‘Alten’ in die ‘Neue’ Welt» ist nicht bloss eine harmlose Überschrift. Die Attribute markierten für sie auch den Übergang aus der Enge in die Freiheit. (Was, nebenbei bemerkt, für viele Walliser, die in die Vereinigten Staaten emigrierten, das Leitmotiv war.)
Während ihrer Jugendzeit in Glis scheint Josephine ausserhalb der Familie nicht besonders viel Geselligkeit erlebt zu haben. Im Rückblick schreibt sie:
Meine Jugend glich einer Alpenrose, die auf rauhem Grunde aufblüht, in waldfrischer Luft sich entfaltet, und von Wenigen beachtet wird. Ob im Alpenrosenhain ein Röschen mehr oder weniger blüht, was liegt daran? (...) Ich konnte scheiden ohne Reue, vielmehr mit einem gewissen Trost im Herzen; denn ich empfing den Segen der Eltern und die Segenswünsche meiner Geschwister. Intelligenz und kritischer Geist dürften Gründe gewesen sein, warum sie wenig Beachtung fand.
Auf der Reise über den Atlantik paarten sich Wehmut und freudige Erwartung. Den eben zitierten Text setzte sie fort mit einem entschiedenen Blick voraus:
Meine Tätigkeit in Europa ist abgeschlossen, vollendet für immer - und nun eröffnet in einer neuen Welt sich mir ein neues Feld des Schaffens und Wirkens.
Sie will – gerade als Nonne – tätig werden, d.h. etwas bewegen.
Im Gegensatz zu den ersten Argentinien-Auswanderern, deren «Meerreisen» nach der Jahrhundertmitte nahezu drei Monate dauerten (gegen Ende des Jahrhunderts war die Familie Theler dann bis nach Buenos Aires allerdings nur noch 26 Tage unterwegs)3, erreichte die Southwark mit den Kloster-Novizinnen an Bord schon nach wenig mehr als einer Woche New York. Die Erzählerin bezeichnet das Schiff als «schwimmendes Hotel 1. Ranges». Die Menu-Karten habe sie jeweils so andächtig und aufmerksam (...) wie eine junge Frau etwa die Sommer-Kataloge der Grands Magazins du Louvre oder du Printemps gelesen. (...) Alles Gute und Süße, was ein hungriges Menschenherz sich wünschen, und was ein deutsch-französischer Koch ersinnen kann, war da verzeichnet. Jedenfalls hält sie fest, dass sie die Schiffspassage (nach überstandener Seekrankheit!) als reinste Erholungstour erlebt hätten. (Auch dies ein starker Kontrast zu den Erfahrungen der Argentinien-Auswanderer.)
Der Höhepunkt war die Ankunft und der kurze Aufenthalt mit New York. Weil vor der Einfahrt in den Hafen Zollbeamte und Inspektoren das Schiff betraten, kommentiert sie die Verzögerung in der bereits bekannten ironisch-sarkastischer Form:
Ach Gott! werde ich denn von diesen Übeln hienieden nimmer frei? Inspektor – ein Übel! ich habe in der Übereilung ein böses Wort ausgesprochen; ich nehme es zurück. «Inspektor!» dieses Wort enthält vielmehr alles Wichtige und großartige, das es auf Erden gibt. (...). Ein Inspektor ist also ein Mann, der Ehrfurcht und Grauen einflößt. Wo er erscheint, beugt und fürchtet sich Alles. Sein Name bedeutet so viel als Kultur. Je gebildeter und fortschrittlicher ein Volk ist, desto mehr Inspektoren hat es. In jedem wohlgeordneten Staate gibt es darum Wasser-, Feuer-, Wind-, Pulver-, Schul-, Eisenbahn-, Fabrik-, Gas- und Straßengraben-Inspektoren. Wenn ein Staat die höchste Blüte der Kultur erreicht haben wird, dann wird jeder zehnte Mann ein Inspektor sein. (...) Ein Inspektor ist immer und unerläßlich ein gelehrter Mann; darum trägt er eine Brille. Eine silberne Brille bedeutet Wissenschaft; eine golden: Weltweisheit. Die goldgelben Knöpfe an seinem Rock zeigen die Zahl der Tugenden an, die er besitzt (...) Einem Inspektor ist alles unterstellt, was da atmet, fliegt, kriecht und schwimmt. (...) Einem Inspektor ist nichts verborgen. (...) Hat er irgendwie etwas entdeckt, wo gar nichts zu finden war, so bekommt er gewöhnlich von seinem Landesfürsten einen Orden und die Frau Inspektorin von der Landesfürstin ein Kaffeeservice.
Vor Spannung, endlich den Fuss auf amerikanischen Boden zu setzen, hielt sie es an Bord fast nicht mehr aus. Entzückt war sie aber schon mal von der Freiheitsstatue. Dass sich die Southwark nicht bei einbrechender Nacht dem Hafen näherte, bedauert sie, denn so hätten sie das immense elektrische Licht von 45'000 Kerzenstärke nicht zu sehen bekommen. Ein Licht, von dem sie schreibt, es zeige den ankommenden Schiffen 40 Meilen im Umkreis den Weg. Und wie hätte ihnen nachts erst das Lichtermeer der Stadt einen überwältigenden Anblick geboten. Von der Silhouette mit zehn- bis zwölfstöckigen Gebäuden ging nichtsdestotrotz eine Faszination aus, die sie in ihren Erwartungen bestärkte.
Wie das eben Zitierte zeigt, erregten technische Errungenschaften ihr besonderes Interesse. Schon von der Southwark hatte sie Daten wie Masse- und Raumangaben, Tragfähigkeit sowie Tiefgang und die «Pferdestärken» der Motoren festgehalten. In der Grossstadt nun war sie besonders von der Brooklyn Bridge beeindruckt. Man könnte meinen, sie hätte ihren Text für eine Dokumentation (damals) moderner Technik verfasst. (Heute könnte es ein Beitrag für Wikipedia sein.)
Wir kamen nun zur großen Drahtbrücke, welche über einen Meeresarm hinweg, New York und Broocklyn in Verbindung setzt. Als letzteres über eine halbe Million Einwohner zählte, wurde eine stehende Verbindung zum unabweislichen Bedürfnis. Ein Deutscher, namens Röbling, hatte den Plan zu einer Brücke entworfen (...). In 15 jähriger Arbeit, wo amerikanische Keckheit mit deutscher Zähigkeit sich paarte, kam das kühne Werk zu Stande und im Jahre 1883 wurde die Brücke, die großartigste der Welt, eingeweiht. Sie ist 26 Meter breit und 1966 Meter (also beinahe 2 Kilometer) lang. Ihre Höhe beträgt 10.5 Meter und die Spannung 480 Meter. Über die beiden, 84 Meter hohen Hauptpfeiler sind die vier großen Kabeltaue, jedes von fast einem halben Meter Durchmesser, gelegt; sie tragen die gußeiserne Brücke mit ihrem unendlichen Stahlgitterwerk. Fünf Bahnen führen über die gewaltige Brücke. Die beiden äußersten Wege sind Fahrstraßen für Fuhrwerke; an sie legen sich auf beiden Seiten zwei Eisenbahnen, auf denen mittels einer stehenden Dampfmaschine an einem endlosen Drahtseile die Wagen herüber und hinüber bewegt werden. In der Mitte erhebt sich der Weg für die Fußgänger, der durch seine hohe und freie Lage die schönste Aussicht gewährt, denn von der Höhe desselben überblickt das Auge den ungeheuren Mastenwald der Fahrzeuge, das weite, weite Meer, und die unendliche Zahl der Häuser der gewaltigen Doppelstadt. Gar mancher wurde vom Schwindel ergriffen, wenn er in das unruhige Gewimmel hinabsah, wo die einen Fahrzeuge mit unglaublicher Schnelligkeit dahinfahren andere wie schnaubende Riesen ihre Lasten durch das Meer ziehen. Alle aber, so groß sie auch sein mögen, fahren unbehelligt unter den Jochen der Brücke hindurch. Ich glaube es: wie dieses Werk einzig seiner Art ist, so ist auch der Ausblick von dieser Brücke einzig schön, vielleicht der schönste auf unserer Erde.
Das liest sich wie ein Lobgesang auf moderne Technik, formuliert von einer Frau, die unterwegs war von einem Walliser Bauerndorf in ein amerikanisches Frauenkloster. Aber Ingenieurskunst entsprach durchaus ihrem ästhetischen Massstab. Vermutlich hätte Josephine Gentinettas Weg, wäre sie drei Generationen später geboren, nicht ins Kloster, sondern an eine technische Hochschule wie die ETH geführt. Wie sich zeigen wird, interessierte sie sich mindestens so sehr für Mathematik und Physik wie für Religiöses. Die Aufzeichnungen verraten an einzelnen Stellen, dass sich bei ihr eine Art Sendungsbewusstsein ausbildete. Die junge Gliserin hätte gerne auch die Schweiz so entwickelt gesehen wie die ‘Neue Welt’. Das bisher Erlebte stärkte auch ihr Selbstbewusstsein. Am liebsten hätte sie politischen Repräsentanten des Wallis oder der Schweiz die amerikanischen «Neuheiten» gezeigt und erklärt:
O wie viele Einrichtungen sind in Amerika resp. in New York, von denen man in meinem Heimatort Brig noch nichts weiß und von denen selbst die wohlweisen Stadträte in Sion noch keine Ahnung haben. Gewiß wäre es höchst ratsam, wenn aus diesem und jenem Schweizerdorf einige Gemeinderäte nach Amerika kommen würden, um hier Neuheiten anzuschauen und zu studieren, um dann auf der Grundlage des Gesehenen in ihren Kreisen zeitgemäße "Verbesserungen" einzuführen. Nur aus dem, was ich bis jetzt auf meiner Reise gesehen habe, könnte ich, gleichsam als Mitberaterin, manchem Herrn Gemeinde- oder Kirchenrat schätzbare Belehrungen erteilen.
Josephine Gentinetta stellte sich gern eine Welt ohne Grenzverläufe vor. Der New Yorker Hafen, wo auf den Schiffen hundert verschiedene Flaggen von allen Ländern der Erde flatterten, führte zur Überlegung, die Meere wären da, um die Länder zu verbinden, als zu trennen.
Gerne wäre sie ein paar Tage in New York geblieben, denn es
wäre noch manches Merkwürdige zu sehen gewesen, wie z. B. die City-Hall, die St. Patricks-Kathedrale, die Börse, das Postgebäude, die Battery (die Lieblingspromenade der Stadtbewohner) u.a.m. Ganz sicher hätte mein «ästhetischer Sinn», der schon vor den Schaufenstern der Prachtsläden in Straßburg die heilsamsten Anregungen empfangen hatte, vor den immensen Mode-Magazinen New Yorks wesentlich sich noch ausbilden können. Doch, so geht es im menschlichen Leben: wenn man eine recht gute Idee hat, so findet sie bei den Andern selten Würdigung und Anklang. Die wohlerhrw. Mutter hatte ihrerseits die Meinung, daß der Besuch von Museen, Bazars, öffentlichen Gärten für angehende Klosterfrauen nicht absolut notwendig sei. (...) Wir fügten uns ins Unvermeidliche. Besser von New York nach Vermillion, als von New York wieder nach Antwerpen, resp. Europa zurück!
Mit der Eisenbahn fuhren die angehenden Klosterfrauen via Chicago nach Vermillion. Dort sollten sie das Noviziat antreten, bevor der endgültige Entscheid für (oder gegen) das Klosterleben zu fällen war. Die schier endlosen Prärien entlang der Strecke erschienen der Walliserin wenig einladend; zu deutlich meldete sich das Bewusstsein vom Verlust der Berge. Wer sich alpenländische Topografien gewohnt ist, kann das leicht nachvollziehen. Die topfebene Prärie South Dakotas bietet dem Blick fast keinen Widerstand; man stösst mit den Augen nirgendwo an; vielleicht ab und zu an einer Baum- oder Gebäudegruppe. Im Unterschied dazu stellt sich bei einem Blick übers Meer eine Art von Sehnsucht nach entfernten Landen ein. In den Ebenen Dakotas entsteht eher der Eindruck von Verlassenheit.4
Die künftige Ordensfrau stellte sich erneut die bange Frage, ob sie die Walliser Berge je wieder sehen würde. Immerhin konnte sie über die eleganten, bequemen amerikanischen Eisenbahnwagen Positives notieren. Noch leuchteten darin zwar Petroleum- oder Gaslampen, aber in Kürze würden sie modernen Lichtquellen weichen – und dann sind sowohl die Wagen als auch die Menschen elektrisch erleuchtet. Als Passagiere in Wagen zweiter Klasse kamen sie allerdings nicht in den Genuss der ganzen Pracht:
Luxuriöser und üppiger muß das Innere der Restaurationswagen und Salonwagen I. Klasse ausgestattet sein. Ich hatte bei einer größeren Station, wo auf den Geleisen neben uns noch mehrere Züge standen, Gelegenheit, einen Blick hineinzuwerfen – und war überrascht und entzückt. Ach! so geht es den meisten Menschen, den Schullehrern und Landjägern, sie haben nur eine dunkle Ahnung vom Überfluß und der Pracht, die in andern Ständen und Kreisen zu Tage treten; der Genuß aber bleibt ihnen für immer versagt.
Schon zuvor haben wir gesehen, wie die junge Frau beim Betrachten erlesener Stoffe und prächtiger Kleider zu schwärmen begann. Man fragte sich, wie schwer es ihr fallen würde, fortan das schwarze Ordenskleid zu tragen. Zweifellos hätte erlesene Garderobe Ihren visuellen Bedürfnissen besser entsprochen, aber sie sich leisten zu können, hätte sozialen Aufstieg vorausgesetzt. Sie nahm an, dass entsprechender Genuss ihr für immer versagt bleiben würde. Darum war es konsequent, sich auch von Sehnsüchten dieser Art zu verbschieden. So wie sie es angesichts des herrschenden Patriarchats vorzog, Kloster- statt Ehefrau zu werden, wählte sie lieber das Nonnengewand anstatt hässliches kleinbürgerliches Gewand. Der schlichte schwarze Habit erlaubte ihr ausserdem, der Welt des sozialen Vergleichs adieu zu sagen.
Dem eben Zitierten folgt eine in einen amüsanten Kommentar mündende Schilderung, in der eine Kuh sozusagen aus der Zeit fällt:
Bei den Bahnen, die durch die immensen Prärien fahren, ist jede Lokomotive mit einem schneepflugartigen Rechen, «Kuhfänger» genannt, versehen. Da die Linien nicht abgeschlossen oder eingezäunt sind, so verirren sich nicht selten Pferde oder Rinder sich auf dieselben. Ein Hirt oder Wächter ist nirgends zu sehen. Während nun eine Kuh nachsinnend auf der Linie steht, tiefernst über die Bedeutung der eisernen Schienen nachdenkt, braust ein Bahnzug pfeilschnell heran, der Pflug fängt sie regelrecht auf und legt sie, ohne daß der Zug in seinem Laufe irgendwie beeinträchtigt wird, nach einer Minute sanft oder weniger sanft auf die rechte oder linke Seite. Da kann sie, wie ein Naturforscher, über die Kraft des Dampfes nachdenken.
Als der Eisenbahnzug mit den Kandidatinnen sich dem Ziel Vermillion näherte, seien ihre Gedanken nun besonders leicht und schnell auf eine noch zur Hälfte gefüllte Flasche – und auf den Zustand meiner Seele gelenkt worden. Dies führt sie auf die fehlende Abwechslung auf der Fahrt durch die Prärie zurück. Die Nervosität angesichts des unmittelbar Bevorstehenden stellt sie dar an der «lieben Kandidatin L. M., [Louise Meyer aus Villmergen] die ganz prosaisch dreinschaute und mitunter durch einen kräftigen, langen Schluck aus dem hoffnungsvollen resp. grünen Gefäss das letzte Fünklein der Poesie zu retten gesucht habe. Dass sich die eine und andere der Frauen Mut antrank, erstaunt kaum. (Eher schon, dass einzelne Kandidatinnen Alkoholisches mitführten.). Vielsagend ist die Wendung vom letzten «Fünklein Poesie». Ebenso der Vergleich, wonach auch andere Dichter auf ähnliche Weise ihre Begeisterung zu gewinnen oder zu bewahren suchten. Kaum hätten sie ihre Geisteskraft gestärkt und sei der Mund etwas geläufiger geworden, habe die reiseleitende Nonne einen Rosenkranz zu beten angefangen – und sie hätten voller Aufmerksamkeit und Innbrunst mitgesungen. Das Gebet wie das alkoholische Getränk waren Mittel, sich zu beruhigen.
South Dakota ist einer der Prärie-Bundesstaaten der USA; er liegt westlich der Grossen Seen; grenzt östlich an Minnesota, westlich an Wyoming sowie Montana und südlich an Nebraska. In der grössten Stadt, Sioux Falls, leben weniger als 180'000 Einwohner. Das zeigt, wie dünn besiedelt das Gebiet ist. Kurz vor 1900 gab es in South Dakota weniger als 400'000 Einwohner. Auch heute sind es nur knapp 900'000. Es leben hier mehrere Stämme der Ureinwohner. Innerhalb der USA hat der Staat mit 8,6 Prozent den dritthöchsten Anteil indigener Menschen.5
Historisch bedeutsam ist ein schreckliches Ereignis: das Massaker am Wounded Knee. Wenige Jahre zuvor, am 29. Dezember 1890, metzelte die US-Kavallerie hier über 300 Männer, Frauen und Kinder der Lakota, Minneconjou und Sioux nieder und brach so den letzten Widerstand der Indigenen. Zuvor war ihr Häuptling Sitting Bull beim Versuch, ihn zu verhaften, von einem Polizisten erschossen worden.
Die Badlands und der Wind-Cave-Nationalpark sind zwei über South Dakota hinaus bekannte Naturreservate. Weltberühmt ist das Mount Rushmore Memorial in den Black Hills mit den Präsidentenköpfen von George Washington, Thomas Jefferson, Theodore Roosevelt und Abraham Lincoln.
Politisch wählt South Dakota seit jeher republikanisch, bei den Präsidentschaftswahlen 2020 zum Beispiel mit fast 62 Prozent. Einzig im Jahr 1964 erhielt der demokratische Kandidat Lyndon B. Johnson mit 55 Prozent die Mehrheit der Stimmen.
Die Ankunft in der Kleinstadt6 ungefähr 30 km östlich von Yankton schildert die Novizin so:
«Vermillion!» erscholl es draußen. «Vermillion!» ertönte es drinnen. Es war ½ vor 11 Uhr Mittags. Ein seltsam Gefühl erfaßte mich; es war ein Gefühl der Zufriedenheit und Freude. Und diese Freude war auch auf andern Gesichtern ausgeprägt. Jede suchte der andern vorzukommen; jede wollte zuerst aussteigen; keine wollte die letzte sein.
Das Haus, wo sie während des Noviziats wohnen sollten, war gerade erst fertiggestellt worden. Deshalb wurden die jungen Frauen vorerst in Putz- und Verschönerungsequipen aktiv:
Vom Morgen bis zum Abend wurde gefegt, gewaschen, geputzt etc. Selbst Türen, Schränke und Böden malten und ölten wir selbst, was wir zu Hause gewiß nie recht ordentlich zu Stande gebracht hätten. Jede Stunde war mit Gebet und Arbeit so ausgefüllt, daß das Heimweh fast unmöglich hätte Eingang finden können. So verflossen die ersten Tage ganz unerwartet schnell zu unserer vollkommensten Befriedigung.
Es galt, die letzten Tage der Freiheit zu geniessen, waren sie doch der Pflicht des Stillschweigens noch enthoben. Entsprechend viel und oft hätten sie miteinander gesprochen. Sie wussten, dass schon bald ein Schloß an unsern Mund gelegt würde.
Gegen Ende der «Reisenotizen» folgen Informationen über Süddakota. Zum Klima zum Beispiel, es gelte als gesund und werde sogar Fieber- und Lungenkranken empfohlen. Die Winter seien kalt und die Sommer heiss.
Haupterwerbszweig ist der Ackerbau. Im Jahre 1887 nahm Dakota in Bezug auf Weizenproduktion den ersten Rang in der Union ein und lieferte 62 Millionen Buschel (1 Buschel wäre 35 Liter). Nächst dem Ackerbau ist die Viehzucht von Bedeutung. 1894 hatte Nord- und Süd-Dakota zusammen 431'000 Milchkühe, 738'000 Rinder, 454'000 Pferde, 708'000 Schafe. In Dakota gibt es auch Gold- und Silberminen.
Josephine Gentinetta, die künftig Maria Josephin Berchmans heissen wird, verabschiedet sich am Ende des Reiseberichts in der Form eines Briefes:
Noch einmal kehre ich im Geiste zurück nach Europa: noch einmal richte ich meine Blicke nach den Schweizerbergen; noch einmal sende ich meine Grüße, euch meine Lieben. Ich sende sie vorerst Dir, teure Mutter, und dann Dir, teure Schwester, dann euch, liebe Brüder und werte Schwägerinnen. Dort auf dem friedvollen Gottesacker in Glis will ich beim Grabe meines Vaters niederknien und ein andächtiges Vaterunser für seine Seelenruhe beten. An dieser ehrwürdigen Stätte will ich ihn noch einmal bitten, daß er vom Reich der seligen Geister aus, sein Kind, segne, wie er vor seinem Sterben (...) mich gesegnet hat. (...) Ich habe euch, Angehörige unserer Familie, verlassen, aber ich habe euch nicht vergessen und werde euch nicht vergessen; dem Raum nach sind wir wohl von einander getrennt, in der Gesinnung aber und dem Geiste nach sind wir noch mit einander verbunden. (...)
Lebt wohl, meine Teuren! Trauert nicht! Die Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, daß wir auf dieser Welt einmal uns wiedersehen. Wie viele ehrwürdige Schwestern der Benediktinerinnen-Klöster in Amerika sind nach einer Reihe von Jahren auf eine gewisse Zeit nach Europa, respektive nach der Schweiz zurückgekehrt, haben viele von ihren Verwandten und Bekannten wieder gefunden! – Und sollten wir hienieden uns niemals mehr sehen – so werden wir uns wiederfinden und wiedersehen im seligen Jenseits.
Die «Zwanglosen Reisenotizen» zeigen eine junge Frau von einiger Belesenheit, grosser Klugheit und einer gehörigen Portion Witz und Schalk. Man darf gespannt sein, ob und wie sie ihr Potenzial als Benediktinerin und Lehrerin entfalten kann.
Mein lieber guter Bruder, ...
Die Korrespondenz mit den Familienangehörigen im Wallis
Von Josephine Gentinetta – als Nonne nun mit geändertem Namen: Maria Josephin Berchmans – sind 16 Briefe und einige Postkarten erhalten. Die Briefe allerdings nur aus der Zeit zwischen 1925 bis 1939. Aufbewahrt wurde alles von der Nichte Olga Gentinetta, der Tochter ihres ältesten Bruders Emil. Warum es aus der Zeit zuvor, immerhin beinahe 30 Jahre, keine Briefdokumente und nur eine Postkarte aus dem Jahr 1919 gibt, lässt sich nicht beantworten. Womöglich wurden ihre Briefe erst ab der Zeit aufbewahrt, als Olga Kontakt zu ihrer Tante aufnahm. Die Briefe aus dem Wallis fehlen ganz, obwohl das Kloster nach dem Ableben der Nonne ihre Nachlass-Dokumente ins Wallis sandte. Soweit bekannt, waren keine Briefe darunter. Dass die Emigrantin solche nicht aufbewahrte, ist wenig wahrscheinlich. Wie auch immer, der kleine Briefbestand ist informativ; wenn auch nichts bekannt ist über ihre Anfänge als Nonne und Lehrerin, so erfährt man doch Wesentliches über die weitere Lebensgeschichte. Auch geben die Briefe durchaus Antwort auf die Frage, inwieweit sich die Hoffnungen der damals jungen Josephine auf eine freie geistig-intellektuelle Entwicklung erfüllten.
Das erste schriftliche Dokument ist die nachfolgend abgebildete Postkarte, geschrieben in Epiphany7 am 5. April 1919. Auf der Rückseite der Adressfläche steht der folgende Text:
Lieber, teurer Bruder!
Heute versandte ich an Deine Adresse ein Paket Photographien für Dich & Bruder Josef – Vor einiger Zeit sandte ich welche an Hochw. Hr. Karl für Br. August & Ernst. Hoffe, daß alles wohlversehrt ankommt. Bitte schreibe mir recht bald, hörte schon lange nichts mehr v. Dir, lb. Bruder. Hast Du meine Karten v. 2. Dez. 1916 & vom 18. Okt. 1918 erhalten? Hermina meinen Brief v. 28. Okt. 18? Hier herrscht die Influenza8 auch ziemlich stark. – Ich bin stets in der Schule beschäftigt & erfreue mich guter Gesundheit, nur meine Nerven sind (…)
Und die auf dem Bild lesbare Fortsetzung:
(…) etwas angegriffen. Habe immer viel Arbeit, da wir gegen 100 Schüler haben & etwa 40 davon bei uns in Kost & Logie, viele Knaben darunter v. 7 - 15 Altersjahre. Wie geht's Euch allen? Glis ist wohl sehr verändert seit 1896. 9
Der Text endet mit: 1000 herzl. Grüße - Deine Schwester M. J. Berchm.
Mindestens seit 1916 sind weder ihre Kartengrüsse noch der Brief an Emils Tochter Hermine beantwortet worden. Josephine schreibt, Emil habe ihr schon lange nicht mehr geschrieben. Soweit bekannt, hat er ihr seit dem Abschied vor nahezu einem Vierteljahrhundert auch nicht eine einzige Textzeile geschrieben.
Der erste erhaltene Brief wurde sechs Jahre später verfasst. Er trägt das Datum 2. Januar 1925 und fängt so an: Lieber teurer Bruder! Geliebte Schwägerin & Kinder! Nach den Wünschen zum neuen Jahr folgt eine weitere direkt an Emil gerichtete Anrede: Mein lb. guter Bruder, oft & oft schon schrieb ich an Dich, allein ich erhalte nie eine Antw. (…)
Dieses Motiv – leicht variiert – wird zum Stereotyp in allen weiteren Briefen an ihn. Das impliziert den verstörenden Sachverhalt, dass er auch nach 1919 nie zurückschrieb – und zweifellos auch keinen von Josephines10 früheren Briefen beantwortete. Die Gründe sind rätselhaft. Was das Verhältnis der beiden Geschwister betrifft, so wurde schon ausgeführt, dass Josephine als Mädchen und später als junge Frau ihren ältesten Bruder liebte und bewunderte. Das mag auch darin begründet gewesen sein, dass er schon als junger Mann den Sommer über in Zermatt als Bergführer tätig war und sowohl dort als auch in Glis einiges Ansehen genoss. Josephines emotionale Nähe zu ihm erklärt sich jedoch besonders aus dem Umstand, dass er sie nach dem Tod des Vaters bei der Ausbildung zur Lehrerin und beim Eintritt ins Kloster finanziell unterstützte. Dass sie nach dem Seminar nicht in den Schuldienst eintrat, sondern in Zermatt als Telegraphistin arbeitete, dürfte auch mit seiner Bergführertätigkeit dort zu tun gehabt haben. Er konnte sich auch in englischer Sprache verständigen; seine «Herrschaft» kam zumeist aus dem englischen Sprachraum. In Glis bekleidete er überdies politische Ämter. Die Gentinettas gehörten zu den angesehenen Familien in der Gemeinde. Zweifellos war Emil eine im Umgang mit Menschen kompetente Persönlichkeit. Umso unverständlicher die Verweigerung jeglicher Korrespondenz mit der Schwester in Amerika. Dass er ihre Auswanderung und ihren Entschluss, Benediktinerin zu werden, nicht guthiess, überzeugt als Begründung nicht. Und gleichwohl dürfte das Schweigen aus einer Trotzhaltung heraus erfolgt sein. Wenig überzeugend jedenfalls ist die Erklärung, mit der Josephine selbst ihn zu entschuldigen versucht. Sie schreibt, es tue ihr recht weh, allein ich weiß auch, daß Männer für gewöhnlich das Briefschreiben nicht sehr lieben. Das ist Zweckrationalismus, eine Form von Selbstschutz. Ohne diesen könnte sie den Kontakt zu ihm kaum aufrechterhalten, ohne einen Teil ihrer Selbstachtung zu verlieren. Und es liesse die Hoffnung schwinden, die Geschwister und ihre Nachkommen jemals wieder zu sehen.
Wie schmerzhaft der fehlende Kontakt war, drückt sie aus, wenn sie schreibt, wie «ungeheuer» sie sich jeweils gefreut habe, wenn du manchmal von den Bergstrapatzen [!] zurückkehrtest. Das ist ein impliziter Appell, ihr nicht weiterhin zu zürnen. Ihre Äusserungen stehen im Zusammenhang mit dem ihr zugefallenen Erbteil des verstorbenen Bruders Ernst. Fünfzig Franken davon könne Emil einbehalten; mit einem Betrag in ähnlicher Höhe habe er ihr ja damals geholfen, als sie als Kandidatin ins Kloster Marienburg (im luzernischen Wikon) eintrat. Sie fragt, ob er das Geld nun zurückhaben möchte oder wie es damit stehe. Es ihr zu überlassen bedeute, dass sie es dem Kloster schenken könne. Also schreibe mir einige Zeilen bitte, es wird mich ungemein freuen, warst du doch immer so gut zu mir & ich hing als Kind gar sehr an Dir (…).
Bevor sie über sich selbst etwas schreibt, erkundigt sie sich nach dem Befinden einzelner Familienmitglieder und bemerkt, dass Glis sich ihr zu entfremden scheine, denn Niemand schreibt mir v. dort. – Was sie schliesslich über sich selbst erzählt, erscheint wie nebenbei formuliert. Sie sei seit dem September in Yankton (dem Sitz des Klosters) als Lehrerin & Oberin tätig. Das bedeutet, dass sie zu diesem Zeitpunkt dem Kloster vorstand. Auch wenn das ohne Kontext dasteht, dürfte damit der Wunsch verknüpft sein, von den Angehörigen wertgeschätzt oder zumindest wahrgenommen zu werden. Zum persönlichen Befinden schreibt sie einzig: Mir geht es geistig und leiblich gut; man bewundert fast meine starke Natur. Gegen Schluss wendet sie sich ein weiteres Mal an den Bruder – mit der Bitte um ein paar Zeilen. Sie wünscht sich überdies ein «Lebenszeichen» von dessen Tochter Hermine, denn seit fünf Jahren habe sie nichts mehr von ihr gehört.
Der Brief macht den Zwiespalt deutlich. Als Lehrerin und Oberin fehlt es Josephine nicht an Selbstbewusstsein und auch nicht an Anerkennung, aber das macht ihren Schmerz nicht kleiner, dass sie von Emil, auf den sie nach wie vor grosse Stücke hält, in den vergangenen 29 Jahren kein einziges Zeichen der Versöhnung bekommen hat. Gerade weil die inzwischen 48-Jährige erfolgreich ist, hat sie das Bedürfnis, vom Bruder wenigstens eine Spur von Zustimmung zu erhalten. Auch deshalb, weil der Heimatverlust sie weiterhin schmerzt. Sie ist ausgewandert und ins Kloster eingetreten, um mehr aus sich zu machen als das in der Schweiz, insbesondere im Wallis für eine Frau Mögliche. Als Benediktinerin in Yankton ist ihr das gelungen. Auch wenn sie meint, es als Nonne nicht zeigen zu dürfen, ihr Stolz ist spürbar. Sie hat das Bedürfnis, auch in Glis in ihrer Identität wahrgenommen zu werden.
Der folgende Exkurs über die Christianisierung der Urbevölkerung in Dakota hat mit der Geschichte von Josephine Gentinetta direkt nichts zu tun. Nach allem, was wir über ihre Lehrtätigkeit wissen, hat sie nie in einem Sioux-Reservat unterrichtet. In den wenigen Fällen, wo sie Schülerinnen und Schüler erwähnt, bezeichnet sie diese als Kinder von Farmern. So schreibt sie einmal, deren Eltern seien deutschstämmig, sie aber des Deutschen nicht mächtig. Trotzdem scheint mir dieser Einschub wichtig, denn es waren Benediktinermönche und -nonnen, die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die Lakota (Stammesgruppe der Sioux) missionierten. Und es war ein Schweizer Benediktiner, der Mönche und Nonnen auch aus der Schweiz nachkommen und unter seiner Führung in den Reservaten Süd-Dakotas Kirchen und Schulen errichten liess. Im gleichen Jahr, als die junge Walliserin in Yankton eintraf, starb der Hauptinitiant, von dem in der Folge die Rede sein wird. Missioniert wurde weiterhin, aber es scheint, dass Frau Gentinetta damit nicht in Berührung kam.11
Die Missionierung der Sioux im Dakota-Territory
Die Gründung von Benediktinerklöstern sowohl für Männer wie für Frauen auf dem ehemaligen Territorium der Sioux diente missionarischen Zwecken. Der in den USA als «Apostel der Sioux» bezeichnete Benediktinerpater Martin Marty war die treibende Kraft bei der systematischen Umerziehung und Christianisierung der Lakota. In seinen Aufzeichnungen hielt er in den späten 1870er-Jahren fest: «Es scheint Gottes Wille zu sein, dass der Benediktinerorden in der jetzigen Zeit die Missionsarbeit unter den Heiden übernehmen sollte.»
Schauen wir kurz zurück: Die «Indian Removal Act» von 1830 war die rechtliche Grundlage für die Zwangsdeportation der indigenen Bevölkerung in Reservate. Schon zuvor hatten die nach Westen drängenden Siedler den Sioux einen grossen Teil ihres Landes im Dakota-Territory geraubt, sie entwaffnet und ihnen die Pferde abgenommen. Ab diesem Zeitpunkt gerieten die zuvor nomadisierenden Sioux in die Abhängigkeit der Weissen. Nachdem diese die Bisons weitgehend ausgerottet hatten, waren die Ureinwohner gar auf Lebensmittelhilfe angewiesen.
Die euro-amerikanischen Zivilisationsagenten waren hauptsächlich katholische Missionare. Das Ziel war, aus den Indigenen sesshafte Farmer zu machen. Ihr Hauptakteur war der eben genannte Benediktiner Martin Marty. Sein Vater Jakob stammte aus Unteriberg, arbeitete in Schwyz als Schuhmacher und heiratete 1832 mit der Dienstmagd Elisabeth Reichlin. 1834 gebar seine Frau das erste Kind, Alois. Im gleichen Jahr wurde Jakob nebenamtlich Sigrist. Mit dem Umzug ins Sigristenhaus und dem Zusatzverdienst kam die Familie einigermassen über die Runden. Von den 11 Kinder erreichten nur sieben das Erwachsenenalter. Sie wuchsen in einem vom Katholizismus geprägten Alltag auf. Alle vier Söhne wurden Priester. Nach dem Theologiestudium trat Alois ins Benediktinerkloster Einsiedeln ein, wo er den Namen Martin bekam. Als 26-Jähriger wurde er ins Tochterkloster in St. Meinrad in Indiana entsandt. Er sollte seine landwirtschaftlichen Kenntnisse einsetzen, um den dortigen Farmbetrieb zu modernisieren und so dem Kloster eine bessere finanzielle Basis schaffen. Marty kehrte nicht nach Einsiedeln zurück. Er stieg in St. Meinrad nach einiger Zeit zum Abt auf. Im Sommer 1876 verliess er die Mönchsgemeinschaft jedoch abrupt und begab sich nach Süd-Dakota, wo er die Missionierung der Sioux zu organisieren begann. (Im gleichen Monat, als er von St. Meinrad wegging, besiegten die Sioux- und Cheyenne-Indianer die US-Kavallerie unter General Custer am Little Bighorn River. Custer und 200 Soldaten fanden den Tod. Nach der siegreichen Schlacht begab sich Sitting Bull ins kanadische Exil.)
Marty wurde in Dakota schon bald Titularbischof. Aus dieser Stellung heraus konnte er in den der katholischen Kirche zugeteilten Reservaten die Missionierung noch zielstrebiger betreiben. Das Hauptaugenmerk richtete er auf die Umerziehung der Kinder und auf die Versuche, die Chiefs zum Katholizismus zu bekehren, um so den Widerstand der erwachsenen Lakota zu brechen. Sitting Bull suchte er sogar in Kanada auf, um ihn zur Rückkehr bewegen. Dieser lehnte das Christentum ebenso ab wie die Zwangsassimilierung. Auch später, nachdem er ins Lakota-Reservat Standing Rock, dem Zuständigkeitsbereich von Marty, zurückgekehrt war, blieb er seiner Haltung treu. Für Marty wäre es zweifellos ein prestigeträchtiger Erfolg gewesen, wenn er den berühmten Mann zum Katholizismus hätte bekehren können. (Sitting Bull starb am 15. Dezember 1890, als Indianer-Polizisten in seine Hütte eindrangen, um ihn festzunehmen. Seine Anhänger suchten das zu verhindern; es kam zu einem Feuergefecht. Dabei schoss ein Polizist Sitting Bull in den Kopf. – Zwei Wochen später folgte die Tragödie am Wounded Knee.)
In den Indianergebieten liess Marty in der Folge Internats- und Tagesschulen bauen. Als Marty 1896 starb, gab es 36 sog. Boarding Schools und 15 Tagesschulen mit insgesamt über 3'000 indianischen Kindern. Dass nur etwa 350 von ihnen Tagesschulen besuchten, zeigt, dass Marty die Internate priorisierte. Das lag sowohl an der grösseren Wirksamkeit der angestrebten ‘Erziehung’ als auch an den vom Staat ausgerichteten jährlich 100 bis 150 Dollar pro Internatsschüler. (Für Tagesschüler wurden nur 10 bis 15 Dollar bezahlt.)
Die Beschulung der Kinder geschah halb freiwillig, halb über Zwang. Dass manche Eltern die Kinder freiwillig in die Missionsschule schickten, lag auch daran, dass sie dort verpflegt wurden.
Der streng geregelte Tagesablauf war geprägt von der benediktinischen Formel «ora et labora». Marty und seine Helfer und Helferinnen meinten, man müsse bei den Zöglingen die «angeborene Abneigung gegen die Arbeit» überwinden; sie seien die «Kinder geborener Bettler». Die Zivilisierungsmission galt auch dem Äusseren. Die Schülerinnen und Schüler wurden europäisch gekleidet und frisiert. Knaben bekamen Kurzhaarschnitt, Mädchen westliche Frisuren. Sogar ihre Namen wurden durch christliche Vornamen ersetzt. Die eigene Sprache zu sprechen war ihnen nicht gestattet. Das Übertreten dieser und anderer Regeln wurde mit übermässiger Strenge bestraft.
Der katholischen Dogmatik entsprechend wurde die Schöpfungslehre unterrichtet – mit u. a. dem Himmel und dem goldenen Pfad dorthin; im Kontrast dazu mit dem schwarzen Weg, gesäumt von Sünden und Lastern, der in den Rachen des Teufels führt. Dabei kannten die Lakota weder Gott noch Teufel; sie glaubten vielmehr an eine Universalenergie und betrachteten alle Dinge und Wesen im Kosmos als Volk. Alle Völker bewohnen gemeinsam das Universum. Die Vorstellung des Menschen als Krone der Schöpfung war nicht vereinbar mit ihrem Weltbild. Sie glaubten, die Menschen könnten nur mit dem Wohlwollen der Natur überleben.
Leute wie Marty handelten aus einer Überlegenheitsideologie heraus. Das zeigte sich zum Beispiel in der Reaktion auf Leute wie den ‘unerziehbaren’ Sitting Bull: «Gott hat lange genug Geduld mit diesen Indianern gehabt», hielt er fest. Sollten sie «starrköpfig» bleiben, würde Gott sie «vom Angesicht der Erde entfernen». Das war unverhüllter Rassismus.
Auch wenn heute ein Grossteil der etwa 60'000 Menschen des Restvolkes der Sioux katholisch ist, hat die Missionierung zumindest eine ihrer Absichten nicht erreicht, die Zerstörung der indigenen Kultur. Sprache und Spiritualität lebten weiter. Nach der Schulzeit orientierten sich zwar manche an der katholischen Lehre, aber andere übernahmen nur Teile davon und verbanden sie mit den traditionellen Vorstellungen ihres Volkes. Wieder andere warfen, sobald sie die Schule verliessen, das ihnen aufgepfropfte Christentum ab wie Ballast. Während der Schulzeit wurden zahlreiche junge Lakotas selbstbewusst. Das ermöglichte ihnen, sowohl über das Christentum als auch über die eigene Kultur nachzudenken. So fanden sie zu ihrer Identität. In der Folge fingen nicht wenige an, die indigene Kultur wertzuschätzen und bewusst zu pflegen. Das kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Missionierung ein doktrinärer Akt war, der zahllose Opfer forderte. Und wie so oft machte sich die katholische Kirche dabei zum Werkzeug jener Kreise, die wirtschaftliche Interessen durchsetzen wollten.
Es mag problematisch erscheinen, die Zivilisierungsmission eines Mannes wie Martin Marty aus heutiger Sicht zu beurteilen. Aber die Selbstverständlichkeit, mit der er die Lebensweisen und Wertvorstellungen der Urbevölkerung abqualifizierte und zu zerstören versuchte, lässt sich nicht rechtfertigen. Auch nicht mit dem Einwand, so habe man damals eben gedacht. Schon nur die Bezeichnung der Indigenen als «Wilde» und als «Heiden» entlarvt den katholischen Ansatz als diskriminierend. Man kommt man nicht darum herum, die damalige Missionierung mit einem Vorgang zu vergleichen, der seit wenigen Jahren zumindest in der westlichen Welt Unmut, ja Abscheu hervorruft: mit der zwangsweisen Umerziehung der Uiguren in den Gefangenenlagern in Xinjiang. Es gibt kaum Zweifel daran, dass China hier kulturellen Genozid betreibt. Sowohl die Sprache als auch der muslimische Glaube der Uiguren sollen ausgemerzt werden. Auch dieses barbarische Vorgehen fusst auf einer Überlegenheitsideologie.
Es gibt ohne Zweifel grosse Unterschiede zwischen der Umerziehung in den Reservaten in Süd-Dakota und derjenigen in den Lagern in Xinjiang. Den meisten missionierenden Mönchen und Nonnen kann man zugutehalten, dass sie mit ideellen Absichten zu handeln glaubten. Aber es ist schwer nachvollziehbar, dass sie ihr Tun angesichts der Zwänge, denen sie die Zöglinge unterwarfen (mit allen sichtbaren Folgen), kaum je infrage stellten. – Für die katholische Kirche als Institution war die Missionierung jedenfalls kein Ruhmesblatt. Wer die Gültigkeit der eigenen Wert- und Weltvorstellung verabsolutiert, d.h. nichts anderes gelten lässt, darf zu keiner Zeit Anerkennung erwarten.
Ein Begriff wie «Heide» war übrigens bei uns bis in die 1950er- und frühen 1960er-Jahre im Gebrauch. So gab es in vielen Schulzimmern katholischer Kantone ein Kässeli mit einem Negerlein obendrauf. Nach jedem Einwurf eines Zehn- oder Zwanzigrappenstücks (mehr bekamen wir von den Eltern nicht) nickte ‘es’ mit dem Kopf. Das Einwerfen von Geld war ein Mitleids-Gestus, aber die Grundhaltung war noch dieselbe. Genauso wenn Kinder – wie im folgenden Bild – während der Fastnacht afrikanisch oder asiatisch gekleidet und geschminkt für die «Heidenmission» auf Sammeltour gingen.
(Quellen: Ausstellung im Landesmuseum Zürich «Weg aus der Schweiz» 2021/2022. Internetrecherche zum Buch «Mission Sitting Bull» von Manuel Menrath, 2016. «Wie die Sioux katholisch wurden», Spiegel-Artikel vom November 2016.)
Hättest Du nicht Lust (…) herüber nach Amerika (…) zu kommen?
Wie sehr sie sich der Herkunftsgemeinde nach wie vor verbunden fühlt, wie wichtig für sie also Nachrichten von dort sind, zeigt der nächste Brief, der hier ungekürzt wiedergegeben wird.
Pax!
Epiphany, So. Dak., U. S. of N.A. den 8. Dez. 1925
Meine liebe Olga!
Recht schönen Dank für den lb. Brief & die vielen Nachrichten. Ich höre so selten was vom lb. alten Heimatort, so bin ich doppelt froh, wenn ich dann hie & da doch wieder etwas davon höre. Soweit ich weiß, erhielt ich den letzten Brief von deiner Schw. Hermine im Mai 1921, den ich am 16. Juli desselben Jahres beantwortetet. Seither hörte ich nichts mehr von Euch Allen, d. h. nicht persönlich.
Es freut mich, daß es Euch Allen gut geht; gewiß bete ich für Euch, bes. für den lb. Vater; denn ich werde nie vergessen, wie er mir zweimal in meinem Leben in einer entscheidenden Stunde finanziell geholfen hat & mir also direkt zum hl. Ordensstande verholfen hat. Er wird gewiß seinen Lohn dafür im Jenseits empfangen. Danke ihm also nochmals recht herzlich in meinem Namen, bitte.
Vom Hochw. P. Jos. Rauch erhielt ich letzthin Nachricht v. Zürich aus. Der Krebs wuchert leider weiter in seinem Gesichte; der Dr. sprach v. Entfernung des rechten Auges. O beten wir doch für den armen so schwer leidenden Pater. Die Gottesmutter v. Glis wird Dein Gebet gewiß erhören. Also wollen wir sie recht bestürmen - Es wundert mich manchmal ob Dein lb. Vater selig (?) & auch ich, uns nicht etwas zugezogen haben als wir zwei im Elternhause keine Fleischsuppe trinken wollten nach dem Fleischessen & dann statt Kaffee oft eiskaltes Wasser od. fast gefrorenen schwarzen Kaffee tranken in der Küche. Solch eine Mischung von Speck & kaltem Wasser ist gewiß niemandem anzuraten. Auch mein Magen schreit gar oft, doch habe ich keine Schmerzen.
Deine Schw. Marie hat sich also an ein Enkelkind des Apoth[ekers]. Gemsch selig verheiratet. Soweit ich mich erinnere, kannte ich zwei Kinder v. ihm, einen Sohn & eine Tochter. Ist Marie's Gatte ein Gemsch od. hat sie einen Sohn seiner Tochter geheiratet? Wie heißt er & [wo arbeitet er?
Sr. Marzella im Marienheim, Einsiedeln, war meine Meisterin, als ich auf Marienburg (Luzern) Canditatin war. Sie ist eine lb. Seele. Ihre leibl. Schw. M. Cecilia ist ebenfalls in Einsiedeln; die Köchin im Marienheim heißt: Sr. M. Anastasia Mayer v. Aargau. Danke bestens für die schönen Grüße v. Marienheim. Hättest Du nicht Lust, dich dorten bei den Schw. vorzumelden, um dann nachher herüber nach Amerika zu Deiner Tante zu kommen, nicht eben, um selbe kennen zu lernen, sondern um Dein junges Leben ebenfalls dem Dienste Gottes zu weihen. Bete recht ernstlich, lb. Olga, & denke ernstlich darüber nach. «Die Zeit ist kurz; die Ewigkeit gar lange.»
Ich kann mich an keine Sr. Salesia in Brig erinnern. Meinst Du etwa Sr. Euphemia? Die kenne ich sehr gut. Grüße Alle im St. Ursula, bitte, für mich.
Das Buch betitelt «Genta»12 erhielt ich durch Hochw. Hr. Karl; ist sehr schön & stellenweise tief ergreifend. Dürftest Hochw. Hr. Grand für mich grüßen, bitte.
Mir geht es immer gut, gerade so wie der lb. Gott es haben will. Ich war auf dieser Mission 9 Jahre von 1917 - 21, dann 4 Jahre auf anderen Schulen, & letzten Sept. wurde ich wieder hiehergesendet, also jetzt mein 10. Jahr in Epiphany [eigentlich ihr 7. Jahr]. Wir sind hier unser 6 Schw., 4 Lehrerinnen. Ich habe selbst die Oberklassen (2 Klassen), nur 25 Schüler dieses Jahr. Die hiesigen Einwohner sind meistens deutsche Katholiken; aber die Jugend findet sich nicht mehr zu Hause in der deutschen Sprache; in der Schule ist alles englisch.
Die hiesige Gegend ist ein großes Flachland; seit 29 Jahren sah ich keine Berge mehr. Die Leute pflanzen meistens Mais, Weizen Kartoffel & haben viel Vieh. Im weiten Westen von hier findet man manche reiche Leute, die über 1000 amerik. Acker Land besitzen & mehrere 100 Stück Vieh etc.13 Du solltest einmal diese Riesenmaschinen sehen, mit denen hier gepflügt, geeg[g]t, gepflanzt & geerntet wird. Es grenzt ans Ungeheure. Doch nicht wahr, das interessiert Dich nicht gar sehr, da Du stets auf dem Bureau arbeitest. Was tust Du denn dorten eigentlich? Wo arbeitet Hermine? Ihr seid doch nicht auf dem Telegraphenbureau? Wer ist jetzt Hr. Pfr. & Kaplan in Glis? Kenne ich selbe wohl? Was ist aus meinen Cousinen in Brig geworden? Dem Alois Rauch & dem verstorbenen (Kapuziner) Rauch seine Kinder? Grüße mir mein einziges Patenkind Eduard Blatter vom Andre Holz. Nun recht fröhliche Weihnachten & seliges Neujahr. Schreib bald wieder. Auch Dein lb. Vater soll mir einmal schreiben, bitte schön.
Beten wir für einander, Deine Tante
Sr. M. J. Berchmans.
Herzl. Grüße an Alle, die sich meiner erinnern; es sind davon wohl nicht mehr viele. Wo steht denn Euer Haus?
Nach vier Jahren ohne Lebenzeichen aus dem Wallis hat Josephine Gentinetta für einmal noch im gleichen Jahr Antwort erhalten. Nicht von der Nichte Hermine, sondern zum ersten Mal von deren Schwester. Olga erzählte darin offenbar einiges über Glis und übermittelte Grussbotschaften aus dem Einsiedler Marienheim. (Sie muss demnach zum Kloster Kontakt haben resp. gehabt haben.) Josephine reagiert überaus erfreut. Einerseits mit zahlreichen Fragen, andererseits mit Erläuterungen zu Personen, zu denen sie einst in Beziehungen stand. Einige von ihnen soll Olga grüssen. Josephine hofft, sich ab jetzt mit der Nichte brieflich austauschen zu können. Künftig vielleicht gar in direktem Kontakt, denn sie geht sogleich einen Schritt weiter, ja, sie fällt gewissermassen mit der Tür ins Haus, wenn sie die Nichte ermuntert, über das Marienheim die Reise nach «Amerika» vorzubereiten. Nicht etwa für einen Besuch, sondern um Dein junges Leben ebenfalls dem Dienste Gottes zu weihen. Bete recht ernstlich, lb. Olga, & denke ernstlich darüber nach. Wie die junge Frau darauf reagiert, können wir nur vermuten. Auch aufgrund der Tatsache, dass sie den Brief, soweit bekannt, nicht beantwortet. (Wenn es eine Antwort gäbe, müsste auch eine aus South Dakota vorhanden sein.) Tatsächlich geht es acht Jahre bis zum nächsten Kontakt zwischen den beiden Frauen. Am 18. Februar 1933 wendet sich Josephine wieder an Olga, mit der Antwort auf deren Brief kurz zuvor. Diesem waren Fotos beigelegt, auch eines von Olgas Vater. Grund fürs Schreiben war eine der Ordensfrau zustehende Erbschaft und die Frage, wie man ihr das Geld zustellen solle. Bitte, sendet das Geld an meine Adresse nach Yankton ins Mutterkloster, denn die Zeiten sind sehr hart & wir haben grosse Auslagen, in einigen Schulen können wir nicht einmal unser Gehalt beziehen, da kein Geld herum ist.14 So die Antwort von «Schw. & Tante Sr. M. J. Berchmans». Sie greift den Sachverhalt jedoch erst am Schluss auf; zuerst geht es ihr um die Fotografie, danach um die Schilderung ihrer persönlichen Situation. Das Foto sei in ihrem Umfeld auf grosses Interesse gestossen. Sie selber habe es so kommentiert: «Wenn mir dieser Mann draußen vor der Tür begegnet wäre, ich hätte ihn nicht gekannt!» Die Umstehenden seien von der imposanten Gestalt ihres Bruders beeindruckt gewesen. Ja, ja in den Alpen hat’s halt kräftige Leute, meint sie – und vergleicht Emils Physis mit ihrer eigenen: Ich wiege stets 165 Pfd & bin noch rüstig & jung; bin ja erst 55 Jahre alt. Zwar leide sie an Gliedersucht und habe keine soliden Füsse mehr, aber sie könne immer noch ganz flott laufen («flott» ist ein typischer Walliser Ausdruck). Gedanklich begibt sie sich für einen Moment wieder zurück in ihre Heimat. Dann nutzt sie die Gelegenheit, den Angehörigen eine Neuigkeit mitzuteilen. Sie gehe während den Ferien selber wieder zur Schule, nehme teil an gewissen höhern Fächern / denn wir gedenken, ein Kollegium zu eröffnen in unserm Mutterkloster in Yankton, das von uns Schw. geleitet werden soll. Die Nonnen müssten darum fortstudieren / bis sie ihre «Titel» erhalten vom Staate. Das ist auch ein Hinweis an die Familie, sie nicht auf die Nonnen-Identität zu reduzieren. Als 55-jährige Frau durchläuft sie in den Vereinigten Staaten ein Hochschulstudium! Wenn nicht mit dieser Information, wie anders kann ich die Angehörigen zu einer Reaktion bewegen? So könnte sie überlegt haben.
Ich will noch einen weiteren Abschnitt des Briefes ansprechen. «Sr. M. Gratia», eine von Josephines Mitschwestern, reiste nach Europa und machte bei der Gelegenheit auch einen Besuch bei den Gentinettas in Glis. Sie war keine Walliserin, nicht mal Schweizerin. (Nach ihrer Rückkehr, liest man, habe sie ihr manches von der schönen Schweiz erzählt; insbesondere die Berge hätten ihr «ungemein» gefallen.) Und doch hatte sie auch in die Schweiz reisen können. Warum war das der Walliser Nonne nicht vergönnt? Tatsächlich fragt sie sich das ebenfalls: Ob ich selbe wohl noch einmal sehen werde? Ihre Antwort: Ich denke kaum; denn die Reise kostet viel & eine solche Auslage würde ich nie v. unserm Kloster verlangen. Sie fügt hinzu, dass sie diesen Wunsch aufgegeben habe: Gar manchmal sehnte es mich nach der schönen, lb. alten Heimat & meinen lb. Brüdern (…), allein das Opfer ist abgeschlossen & so tröste ich mich mit dem Gedanken an das freudige Wiedersehen in der ewigen Heimat über den stillen Sternen.
Was sich wie eine Verzichtserklärung anhört, enthält als tiefere Botschaft die Frage, weshalb man im Wallis nicht versteht, dass sie sich kaum etwas sehnlicher wünscht, als dass ihr jemand die Reise finanziert. Es war wohl so, dass man sie nicht verstehen wollte.
Im Anschluss daran bekräftigt sie noch einmal, dass sie den Schritt nie bereuen werde und meint damit den Übertritt ins Kloster. (Aus Emils Verhalten musste sie den Schluss ziehen, dass er ihren Entscheid auch nach nahezu 30 Jahren nicht guthiess.) Und sie fügt für Olga hinzu: Ob wohl je noch eine meiner lb. Nichten mir folgen wird? (Das hätte ohne Zweifel die bestmögliche Form der Anerkennung bedeutet.)
Antwort bekommt sie nicht. Emil lässt ihr bloss den Erbanteil von 18.90 [!] Dollar überweisen. In einem kurzen Brief bedankt sie sich bei ihm. Man habe inzwischen zwei Messen lesen lassen für die lieben Verstorbenen der Familie Rauch & auch Du warst in einer dieser hl. Messen als Wohltäter eingeschlossen. Es soll Dir diese Liebestat ganz besonders Gottes hl. Segen bringen. Dass sie ihn als Wohltäter bezeichnet, würde man gerne als Sarkasmus lesen, läge damit aber falsch. Immerhin folgt wenige Sätze später noch die Frage: Darf ich noch die Hoffnung hegen, doch noch einmal Deine Schriftzüge zu sehen? Würde mich sehr freuen, lb. Bruder. Das bedeutet Hoffnung, kann aber auch als Vorwurf verstanden werden.
Olga, wärst du nach Amerika gekommen, …
Auch wenn die Nichte auf den Brief nicht antwortet, schreibt die Nonne ihr im Sommer ein weiteres Mal. Diesmal nicht aus der Missionsstation Zell15, sondern aus Milwaukee in Wisconsin. Sie studiert dort an der Jesuiten-Universität. Haltung und Tonfall sind zumindest im Hauptteil auffallend anders. Der Brief enthält weder unterdrückte Seufzer noch indirekte Appelle. Die Verfasserin zeigt sich als selbstbewusste Frau. Nachdem sie in Milwaukee einen Sommerkurs besucht habe, studiere sie nun privat weiter; sie besuche einen «Jahreskursus» mit Mathematik als Hauptfach und Physik, Geschichte und Deutsch als Nebenfächer. In Deutsch brauche sie nur 4 große Examen abzulegen. Geprüft werde sie da in Literatur: Schiller, Goethe, Hauptmann etc. Dafür brauche sie keinen Kurs zu besuchen. Mathematik und Physik seien ihre Lieblingsfächer. Sie führt aus, welche Kurse mit wie vielen Wochenstunden sie während 18 Wochen besucht. – An der Hochschule würden 3'000 Studierende unterrichtet, von Jesuiten ebenso wie von «Laienprofessoren». Und diese seien nicht alle katholisch. Einer, ein protestantischer Holländer, habe «Genta»16 gelesen und sei ganz gerührt & erbaut darob. Immer und immer wieder sprach er von diesem braven Bergführer.
Wenn sie das Studium erfolgreich abgeschlossen habe, werde sie nicht länger auf Volksschulen, sondern an der «Kloster-Hochschule» unterrichten. Im Mutterkloster würden sie nämlich, selbst ein Kollegium17 (für Schw[estern] & andre Frauenspersonen) zu eröffnen hoffen, so müssen wir jetzt die Schw. dazu ausbilden lassen, damit sie ihre Titel erhalten ohne welche Niemand an einem Kolleg lehren darf. Dann setzt sie einen Gedankenstrich und notiert noch: Da siehst du jetzt, lb. Olga, wärst du nach Amerika gekommen, wärst du mit der Zeit auch zu einer Professorin ausgebildet worden! – Nun ja.
Es ist unverkennbar, wie sehr Josephine Gentinetta ihren weiteren Entwicklungsschritt innerlich feiert. Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über; so möchte man mit dem Bibelzitat aus Luthers Übersetzung die Ausführungen kommentieren. In der Tat, überzeugender kann die Nonne nicht belegen, wie sehr sich die Hoffnungen erfüllt haben, die sie als damals als 19-Jährige mit der Auswanderung und dem Eintritt ins Kloster verband. Trauere nicht um uns, die wir auswandern können. Das hätte sie – wie oben dargestellt – beim Grenzübertritt in Basel dem jungen Bahnangestellten am liebsten zugerufen. Jetzt ist sie im besten Sinne des Wortes mit sich selbst identisch. Aber sie merkt auch, dass sie die ihr sonst eigene Zurückhaltung eben abgelegt hat. Ihre Ausführungen kritisiert sie pro forma denn auch gleich: Dieses Geschreibsel heute ist gegen alle Regeln der Demut, doch, es soll nur andeuten, was man tun & leisten kann mit Gottes Hilfe & wie elend dumm der Mensch ist, wenn er vergisst, daß alle Talente von Gott kommen.
Religiös motivierte Äusserungen gehören zweifellos zur Kommunikationsrepertoire einer Nonne. In der Geschichte von Josephine Gentinetta gehe ich nicht weiter darauf ein, weil sie nach meinem Dafürhalten wenig beitragen zu tieferer Erkenntnis über sie. (Entsprechende Passagen sind hin und wieder von ermüdender Penetranz, was auch daran liegen mag, dass man heute anders darauf reagiert als damals.) Auch das eben Zitierte vermittelt kaum Zusätzliches. Es fällt einfach auf, dass die künftige Mathematik-Dozentin das von ihr Erreichte meistens auf Gottes Hilfe zurückführt und so ihre persönliche Genugtuung zumindest teilweise tarnt. Stolz zu zeigen, gehört sich anscheinend für eine Klosterfrau nicht. Es fällt allerdings auf, dass religiöse Verlautbarungen (wie die Hinweise, für jemanden Gebete zu sprechen, für eine Person Messen zu spenden, sich mit einem Wiedersehen im Jenseits zu trösten) häufiger werden. Was zwar hauptsächlich mit dem fortgeschrittenen Alter bzw. dem Tod von Angehörigen zusammenhängt, aber nicht nur. Es hat auch zu tun mit dem Erschrecken über Entwicklungen in der profanen Welt. So erklärt Josephine im Februar 1933 gegenüber Olga, sie habe 1896 ein Opfer der Trennung gebracht, werde aber den Schritt nie bereuen. Und sie begründet das so: Es scheint ja dem Ende der Welt zuzugehen, wozu denn sich an diese arme Welt anklammern? Die Zeitungen stehn voll v. Raub, Mord, Unglück, Haß, Gottlosigkeit etc. Wie sieht's wohl in Rußland aus & in Mexico, südlich von hier? Da sind ja schreckliche Katholikenverfolgungen. Damit will sie Olga bezüglich deren Zukunft beeinflussen, aber ihr Weltpessimismus ist nicht gespielt. Auch wenn sie sich zumeist nicht dort aufhält, so ist die Klostergemeinschaft in Yankton für sie die Umgebung, wo sie sich vor den Schrecknissen der profanen Welt geschützt glaubt. Im Mai 1935 bilanziert sie schliesslich: Was ist doch die Welt so öde; mir verleidet Alles Irdische ganz & gar. Und abgesehen davon, dass sie in der Unterrichtstätigkeit recht eigentlich aufgehe, wie sie sich Emil gegenüber einmal äussert, komme auch das sinnliche Erleben im Kloster nicht zu kurz. Unser Chorgebet & Kirchengesang daselbst sind großartig. Wir haben eine schöne Pfeifenorgel; Sr. Marcellina (v. München) ist Chordirektorin & Organistin. Wir haben viele Schw. ausgebildet in der Musik, da man auf verschiedenen Missionen eine Musiklehrerin verlangte. Ich selbst leitete Jahrelang den Kirchenchor als Organistin (doch keine Pfeifenorgel, nur ein Harmonium18). Dies alles erklärt, warum es in ihren Briefen nur selten Bezüge gibt zu wirtschaftlichem und soziopolitischem Geschehen ausserhalb der klösterlichen Welt. Was die nähere Umgebung betrifft, so berichtet sie etwa zu Beginn der 30er-Jahre über die Verarmung der Leute als Folge der Arbeitslosigkeit, aber auch über Jahre andauernde Dürreperioden, die auf einmal von Regen und Schnee abgelöst würden und Hoffnung machten auf eine kommende gute Ernte. (Einzelnen vom Kloster geführten Schulen sind wie in der Schweiz landwirtschaftliche Betriebe angegliedert, die von Angestellten des Klosters geführt werden.)
Im Jahr 1935 schreibt Olga wiederum nach Yankton, und zwar dreimal kurz nacheinander. Im ersten Brief informiert sie über die schwere Erkrankung des Vaters, wenig später über seinen Tod, und im Spätsommer berichtet sie über die Abdankung.
Josephine reagiert am 5. Mai 1935 mit zwei Briefen; in einem wendet sie sich an Emil (über dessen Tod sie zu diesem Zeitpunkt noch keine Kenntnis hat), im andern an die Nichte.
Der kurze Brief an den Bruder will trösten und aufmuntern; er solle recht oft Akte des Glaubens verrichten und noch öfters kurze Stossgebete sprechen. Diese seien besonders wertvoll. Und einmal mehr bedankt sie sich für das «Gute», das er ihr erwiesen habe. Das habe ihr den Eintritt in den Benediktiner-Orden ermöglicht. Und er solle doch denken: Ich war noch auf der Universität bis letzten Januar. Das will sie ihm auch persönlich mitteilen und so ihr Handeln erneut rechtfertigen. Es ist das letzte Mal, und das ist ihr wohl auch bewusst. Nur weiss sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass er fünf Tage zuvor verstoben ist.
Der Brief an Olga ist umfangreicher. Im Glauben, dass Emil noch lebt, führt sie aus, wie bedauerlich es sei, dass sie bei fast allen Angehörigen, die inzwischen in die Ewigkeit gezogen seien, nicht einmal von deren Krankheit gewusst habe. Die einzige Ausnahme war der lb. Bruder August, dort erhielt ich stets volle Kunde. Wohingegen sie von der schweren Krankheit des Bruders Alois erst erfahren habe, als dieser bereits «im Grabe» gewesen sei.
Diesen Gedanken folgt ein ausführlicher Bericht über ihren erfolgreichen Studienabschluss. Die Anforderungen seien hoch gewesen. [E]he ich vollenden konnte, mußte ich ein Buch verfassen in der Mathematik; der Titel ist: Parabolische Curven, worin mir mein großer Jesuitenprofessor die erste Note gab. Das mußte ich Dir doch schreiben! Zurzeit sei sie in Kranzburg als Lehrerin der Hochschule tätig, werde aber ab dem kommenden Sommer in unserer Academy Mt. Marty (…) Trigonometry lehren.
Die nie gestellte Frage
Erst zwei Jahre später bekommt sie Gelegenheit, wieder auf einen Brief ihrer Nichte zu antworten. Die beiliegenden Fotos veranlassen sie, Fragen zu stellen über verschiedene Verwandte und Bekannte. Und erneut möchte sie wissen, ob «in der alten Heimat» sich noch jemand an sie erinnert. Ein Teil des Textes soll hier wiedergegeben werden:
Friede!
Kranzburg, So. Dak., U. S. of N. A. den 27. Dez. 1935.
Liebe, teure Olga!
(…) Wiederholt fragten mich meine Anverwandten brieflich an, ob ich denn nie mehr in die Schweiz kommen dürfe, & heute will ich diese Frage einmal beantworten. Wir Schw. v. Europa dürfen einmal in unserm Leben in die alte Heimat auf Besuch zurückkehren, unter der Bedingung, daß uns Jemand die Reise bezahlt, da das Kloster solches nicht selbst tun darf od. kann; denn es wäre diese eine ungeheure Auslage, sollte das Kloster für so viele Schw. diese Kosten bestreiten. Da ich aber nie meine Brüder fragen wollte, ob sie dies für mich tun wollten – ich wollte nicht so viel Geld bezahlt haben für meine Wenigkeit – so blieb die Frage stets unbeantwortet. Vor nicht langer Zeit sagte mir unsere Schw. Gratia, die Euch in Glis besuchte, sie denke, daß mein Bruder Emil für mich bezahlt hätte, wenn ich darum gebeten hätte & so dachte ich heute, Dir diese Erklärung zu geben. Dies soll aber keineswegs eine Bettlerei sein, daß Jemand für mich bezahlen sollte – nein – das könnte ich nie verantworten. Also wird meine Reise in die lb. alte Heimat fürderhin nichts anders sein als ein gar lieber Gedanke verbunden mit recht vielen schönen Erinnerungen. Die letzten 2 Sommer gingen im Ganzen 5 Schw. hinaus in die Schweiz & nach Deutschland auf Besuch. (…)
Ich habe dieses Jahr nur 11 Schüler – Knaben und Mädchen – hier auf der Hochschule. Nächsten Sept. soll ich in der Nähe des Mutterklosters am Kollegium zu lehren beginnen. Kommt Dir das komisch vor? In Amerika ist dies nichts Neues, daß Schw. auf solchen Schulen lehren. (…)
Mit vielen Herzl. Grüßen an Dich lb. Olga, Deine lb. Mutter & Euch Alle verbleibe ich
Deine Tante Sr. M. Berchmans, O. S. B.
Es entbehrt nicht der Tragik, dass sie erst nach Emils Tod explizit ausführt, wie ihr grosse Wunsch eines Heimatbesuchs zu erfüllen gewesen wäre. Sie legte die Sache auch dann nicht offen, wenn «Anverwandte» fragten, ob sie nicht kommen «dürfe». Das kann eigentlich nur an Emils Kommunikationsverweigerung gelegen haben. Wenn sie zumindest ein paar Zeilen von ihm bekommen hätte, der Groll also überwunden gewesen wäre, hätte sie wohl den Wunsch ihm gegenüber geäussert. Höchstwahrscheinlich wäre einzig er für sie als Wohltäter infrage gekommen. Sein stures Schweigen liess sie stumm bleiben. Und ihr Bild von ihm wäre zerstört worden, wenn sie ihm gegenüber die Bitte geäussert, er sie aber nicht erfüllt hätte. Und jetzt, nachdem der Sachverhalt offengelegt ist, ist es für ein Hilfegesuch zu spät. Was nicht heisst, dass sie die Reise nicht unternähme, wenn aus Glis eine Einladung käme.
Im Brief finden sich ausserdem drei aufschlussreiche Sätze: Hat Dein lb. Vater noch etwas von mir gefragt in seiner Krankheit? War er jetzt endlich zufrieden damit, daß ich nach Amerika zog. Ich habe nicht einmal ein Schriftzeichen von ihm als Andenken. Diese Sätze zeigen nicht nur Enttäuschung, sondern als Grundgestus auch Verärgerung. Nach beinahe vier Jahrzehnten schier unendlicher Geduld und ungezählten Versuchen, Emils Sturheit aufzuweichen, ist die Erkenntnis bitter, dass er ihr die Emigration und den Klostereintritt anscheinend nie verziehen hat.
Das war ihr letzter Brief an Olga. Deshalb lassen sich keine Aussagen machen über Josephine Gentinettas Lehrtätigkeit am College.
Die Nichte bekam im Frühjahr 1939 einen mit SACRED HEART CONVENTION / YANKTON; SOUTH DAKOTA bedruckten Briefbogen mit folgendem Inhalt zugestellt:
Fräulein Olga Gentinetta / Glis-Brig, Ct. Wallis.
Geehrtes Fräulein Olga:
Soeben hat Ihnen unser Kloster ein Paket zugesandt, enthaltend Andenken von Schwester M. J. Berchmans, seligem Andenken, nämlich Photographien von ihr selbst, der Eltern und Verwandten, nebst drei Heftchen.
Wir hoffen, Sie werden diese Sendung richtig erhalten haben und das Sie Freude daran haben werden. In das Heftchen "Genta" legten wir ein kleines Bildchen – Mädchen mit Blumenstrauss19 – ob Sie wohl die Ehemalige Josephine Gentinetta darin erkennen konnten?
Gedenken Sie der lieben Verstorbenen im hl. Gebete, sie bat so inständig um's hl. Gebet.
Schwester M. Berchmans hatte grosse Freude an Ihrem Schreiben und den Bildchen von St. Ursula. Sie zeigte mir dieselben, weil meine Schwester, Sr. M. Euphemia, die Sie ja gut kennen, in diesem Kloster ist. Entbieten Sie gütigst derselben meine freundlichsten Grüsse, falls Sie Gelegenheit haben zum Besuche.
Nun entbiete ich auch Ihnen meinen Gruss und verbleibe.
Ihre ergebene Schwester M. Gertrude, O. S. B. Im Namen des Klosters.
Das Kloster «The Sacred Heart» in Yankton feierte im Juni 2005 das 125-jährige Bestehen. Daran nahm auch eine Delegation aus der Schweiz teil. Heute gibt es in den USA fünf von «Maria Rickenbach» aus gegründete Klöster. Auf der Website von «The Sacred Heart» findet sich u.a. dieses Bild von Maria-Rickenbach (NW):
Über die Geschichte des Klosters heisst es u.a.:
«Die Yankton Benediktiner gehen auf St. Benedikt zurück, der im 5. Jahrhundert die benediktinische Lebensweise in Monte Cassino, Italien begründete. Die Regel des Heiligen Benedikt hat als Kern das Gemeinschaftsleben mit einer Balance von Arbeit und Gebet. Von dort aus verbreiteten sich Benediktinerinnen und Benediktiner in die ganze Welt, auch in die Schweiz und die Gemeinde Maria Rickenbach.»
Gegenwärtig würden im Kloster noch 81 Benediktinerinnen leben. Sie seien nach wie vor im Bildungswesen und in der Gesundheitsversorgung tätig, leisteten aber auch Gemeinde- und Sozialdienste.
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Bis 1972 eine selbständige politische Gemeinde, ist Glis seither Teil der Stadtgemeinde Brig-Glis. ↩︎
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Nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1871 kam Elsass-Lothringen ans Deutsche Reich (was die Elsässer grossmehrheitlich ablehnten). Nach dem 1. Weltkrieg wurde das Elsass wieder Frankreich zugeschlagen. ↩︎
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Man lese die entsprechenden Reiseberichte. ↩︎
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Das lässt sich leicht mit einer virtuellen Reise mit Hilfe von Google Street View nachvollziehen bzw. überprüfen. (Man wähle irgendeinen Strassenabschnitt in South Dakota, z.B. nördlich von Yankton.) ↩︎
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Obwohl bezüglich der schulischen Tätigkeit auch von Missionsstationen die Rede sein wird, kann ausgeschlossen werden, dass die Nonnen missionierend tätig waren. ↩︎
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Vermillion: Heute eine Stadt mit 10'000 Einwohnern, u.a. mit Sitz der University of South Dakota. ↩︎
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Epiphany liegt etwa 100 km nördlich von Yankton. Es war zu dieser Zeit ein Dorf, umgeben von grossen Farmen. Die Benediktinerinnen erteilten dort den Grundschulunterricht. Viele der ansässigen Farmer waren deutschstämmige Siedler, deren Kinder aber Englisch sprachen. ↩︎
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Gemeint ist die Spanische Grippe, die grösste Influenza-Pandemie der Geschichte. ↩︎
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Bemerkenswert ist, dass der ein halbes Jahr zuvor zu Ende gegangene Weltkrieg mit keinem Wort erwähnt wird. ↩︎
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Ich werde auch fortan ihren ursprünglichen Namen verwenden, und nicht Maria Josephin Berchmans, wie sie im Kloster hiess. ↩︎
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Sicheres weiss man darüber jedoch nicht, fehlen doch bis 1925 schriftliche Zeugnisse von ihr. ↩︎
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«Genta» war ein Heft mit dieser Überschrift. Der Text erinnerte an einen Bergunfall, bei dem Josephines Bruder August bei einer spektakulären Rettung eine offenbar heldenhafte Rolle spielte. (Über das Ereignis gab es auch Presseberichte ausserhalb der Scvhweiz.) ↩︎
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Die genannte Fläche entspricht 400 ha bzw. 4 Millionen Quadratmeter. ↩︎
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«Gehalt» bedeutet nicht Lohn, den die Lehrerinnen erhielten; der Begriff meint vielmehr die Entschädigung, den die Gemeinden, wo Nonnen als Lehrerinnen tätig waren, dem Kloster bezahlten. Dass diese Beträge ausblieben, war eine Folge der Grossen Depression nach dem Börsencrash vom Oktober 1929. ↩︎
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Zell liegt etwa 300 km nördlich von Yankton. Heute – wie Epiphany – ein Ort ohne dörfliches Zentrum; ausser der katholischen Kirche gibt es nur noch ein paar einzelne Gebäude. ↩︎
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Es handelt sich um eine Heft-Publikation mit dem Bericht einer lebensgefährlichen Rettung, bei der sich einer von Josephines Brüdern als Bergführer auszeichnete. Der Professor dürfte den Text von seiner Studentin bekommen haben. ↩︎
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Damit ist ein College gemeint. Amerikanische Colleges schliessen an die High School an; sie setzen das allgemeinbildende Programm fort. Danach beginnt das Hochschulstudium. Die Grenzen zwischen College- und Hochschulbildung sind fliessend. Das Niveau an einem College entspricht in etwa dem der letzten zwei, drei Jahre in einem Schweizer Gymnasium. ↩︎
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Das Harmonium ist ein Tasteninstrument mit einer Tonerzeugung ähnlich derjenigen einer Handorgel. ↩︎
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Es handelt sich um die Fotografie, die ganz oben wiedergegeben ist. ↩︎