Einführung
Im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts hatten die meisten Walliser Migranten das Ziel, am neuen Ort eine bäuerliche Existenz aufzubauen. Es waren zumeist Bauernfamilien, die für die Existenzgrundlage zu wenig Land hatten. Wegen des starken Bevölkerungswachstums wurde der Mangel existenzbedrohend. Dies umso mehr, als es im Wallis ausserhalb der Landwirtschaft kaum Arbeitsplätze gab. Abgesehen davon galt damals ein Wechsel vom Bauern zum Lohnabhängigen als sozialer Abstieg. Die fehlende berufliche Mobilität verstärkte den Drang, dorthin auszuwandern, wo es genügend Land gab. Argentinien machte ab der Jahrhundertmitte erfolgreiche Anstrengungen, europäische Bauern ins Land zu holen. Sie sollten als Pioniersiedler westlich von Santa Fe auf bisher als Weideland genutzten Böden Getreide anbauen.1 Das war umso verheissungsvoller, als Immigranten-Familien unentgeltlich 33 ha Land, eine sogenannte Konzession2, zugeteilt erhielten, eine Parzelle, die grösser war als die Agrarfläche mancher Walliser Dörfer insgesamt. Ausserdem profitierten die Siedler in den Anfangsjahren von staatlicher Unterstützung. (In der Folge wurde Argentinien durch den Export von Agrarprodukten zu einem der weltweit reichsten Länder.)
Für die Nachwanderer wurde es schwierig. Die Siedlungsmigration in die Provinz Santa Fe geriet in die Krise, als das meiste Land verteilt oder von besonders erfolgreichen Siedlern aufgekauft war3. Das wurde schon ab den 1870er-Jahren Tatsache. Den Nachwanderern blieben nicht viele Möglichkeiten; sie konnten in die weit nördlich gelegene Sekundärkolonie Ambrosetti ausweichen, die der ungünstigeren klimatischen Bedingungen wegen für Ackerbau und Viehzucht jedoch weniger geeignet war; sie konnten Teilpächter werden bei einem Siedler, der mehr Land besass als die ursprünglich zugeteilte Konzession, dem aber für die Bewirtschaftung die Arbeitskräfte fehlten. Oder sie konnten versuchen, sich als Landarbeiter durchzuschlagen. (Genaueres erfährt man in den Kapiteln «San Jerónimo Norte» und «Joh. Chr. Theler».)
USA: für temporäre Migranten vielversprechend. Ab den 1870er-Jahren bis zum Ersten Weltkrieg gewannen zunehmend die Vereinigten Staaten als Auswanderungsland Bedeutung. Im Mittleren Westen, z.B. in Arkansas, gab es noch Flächen ungenutzten fruchtbaren Bodens, die sich für Ackerbau und Viehzucht eigneten. Wer hier Farmer werden wollte, brauchte allerdings Eigenkapital, denn der Boden wurde den Ankömmlingen nicht geschenkt wie seinerzeit in Argentinien. Wer einzig seine Arbeitskraft mitbrachte, hatte schlechte Karten, wenn er in den USA bleiben wollte. Anders sah das für Einzelpersonen aus, die nur temporär nach Amerika reisen wollten, um dort während ein paar Jahren Geld zu verdienen. Auf Grossfarmen gab es für sie genügend Jobs. Ihr Grundgedanke: Wenn sie mit einigen Ersparnissen zurückkehrten, hatten sie sowohl für die Familiengründung als auch für die Übernahme eines Hofes die notwendigen Mittel. Tatsächlich wählten viele die temporäre Migration zur zeitlichen Überbrückung, bis sie zuhause das bäuerliche Erbe antreten konnten. Das wurde, wie Klaus Anderegg in seinen Untersuchungen aufzeigte, in den Bezirken des Oberwallis zu einer Tradition.
Die zumeist jungen Leute, die als Einzelne oder in Gruppen in die Vereinigten Staaten reisten, brachen die Zelte also keineswegs hinter sich ab. Auch wenn sie nicht damit rechnen konnten, daheim künftig das bäuerliche Gewerbe zu übernehmen. Viele spekulierten allerdings wohl schon damit, in Amerika schliesslich doch heimisch zu werden, falls sich da eine Existenzgrundlage erarbeiten liess. – Zur angesprochenen Gruppenauswanderung noch dies: Im Unterschied zu den Migranten, die aufbrachen, nachdem sie sämtliches Hab und Gut (in der Regel Land, Gebäude, Vieh und Fahrhabe) verkauft hatten, erfolgte der Entscheid zur Migration oft spontan, etwa während oder nach dörflichen Anlässen, wo man sich mit Leuten in gleicher oder ähnlicher Lage austauschte. Auch Konflikte innerhalb der Familie oder der Dorfgemeinschaft lieferten Gründe fürs Auswandern. Besonders wichtig war, was Rückkehrer oder bereits früher ausgewanderte Familienangehörige erzählten.
Informanten und Mentoren vor Ort. Manche hatte im fast wörtlichen Sinne einen Weg gespurt, den Nachfolgende nutzen konnten. Sei es, dass sie um Anlaufstellen wussten, von wo aus sich Verdienstmöglichkeiten auskundschaften liessen; sei es, dass sie von einem Rückkehrer gar eine Anstellung vermittelt bekamen. Eine solche Bedeutung wurde Emanuel Bortis aus Fieschertal zugeschrieben. Er starb im kalifornischen San Matheo. Die «Walliser Nachrichten» schrieben am 2. November 1934 über ihn:
Als Sohn einer grossen Familie von 12 Kindern nahm er zu Beginn der 90er Jahre seinen Abschied aus der Landjägerei, nachdem er vorher in der päpstlichen Garde gedient hatte, und zog nach Californien, wohin ihm bereits ein Bruder vorausgegangen war. Durch seinen Weitblick und einen hohen Grad an Selbstbildung hatte er sich ein sorgenfreies Leben geschaffen. (...) Fast für die meisten Auswanderer aus dem oberen Rhonetal war sein Heim ein Absteigequartier. Seine Weltkenntnis und sein praktischer Sinn boten manchem Neuling eine führende Hand, bis er sich in den neuen Verhältnissen zurechtgefunden hatte.
Mediale Berichterstattung. Wenn mehrere Leute gemeinsam das Dorf verliessen, berichtete auch die lokale Presse darüber. So der «Walliser Bote» am 25. März 1905:
Es muss den in Amerika eingewanderten Bürgern von Grengiols wie den Israeliten im gelobten Lande ergehen, und ihre Briefe erzählen sicher alle vom Lande, wo Milch und Honig fliessen, sonst würden nicht immer neue Scharen junger Leute in dieses Land grosser Hoffnungen, aber auch grosser Enttäuschungen reisen. Donnerstag, den 23. März wanderte wieder eine Karawane junger Burschen und Jungfern aus. Glückauf und gute Reise rufen wir ihnen zu, umsomehr wir immer mit einem Gefühl der Bangigkeit sie von uns scheiden sehen.4
Ja, auch junge Frauen wählten diesen Weg. Sie wurden Dienstmägde in bürgerlichen Familien oder bekamen Stellungen im Gastgewerbe. Schon Jahre zuvor hatte die gleiche Zeitung sich dazu geäussert, dass nicht nur junge Burschen abzögen, sondern «auch Mädchen*,* selbst unter zwanzig Jahren, stürmen fort, in Begleitung und allein; endlich auch verheiratete Männer ergreifen den Wanderstab. Mögen sie die Einwilligung ihrer Gattinnen mitnehmen – wir zählen auf diese Art Strohwitwen, viele Waisen, viele betagte, verlassene Eltern».5
Emigrierende Familienväter. Wenn Ehemänner und Väter diesen Weg wählten, taten sie es, weil sie die Familie nicht ernähren konnten und es eben keine Verdienstmöglichkeit ausserhalb der Landwirtschaft gab. In einem Brief vom November 1908 schreibt Josefa Schalbetter aus Grengiols ihrem Bruder in Argentinien über die Folgen für die ernährerlose Familie:
Erstens mus ich dir melden, dass der Bruder Jos wegen Armut nach Nordamerika gegangen ist, etwas besser als zwei Jahre ist er schon abwesend. Er hinterlässt eine Familie, Frau mit 3 Kindern, 2 Töchter mit Name Maria und Anna, der Sohn Karl, aber nicht Karl der Grosse. Die Frau mit den Kindern wohnt hier im Viertel bei uns so dass die Kinder mehrteils ich auf meinem Pugel habe. Gerade heute hat die Frau vom Bruder Jos ein Brief erhalten. Er schreibt, dass er ohne Platz sei, somit wird er auch wenig verdienen, auch schreibt er, er habe vom Bruder Johann etwas vernomen, so dass dieser wehnigstens noch am Leben wäre, aber die Adresse habe er bis dahin noch nicht ausfindig machen können
Alexander Walpen, ein anderer Mann aus Grengiols, verliess 1910 gemeinsam mit seinem Bruder das Wallis. Beide wollten in Kalifornien als Melker Geld verdienen. Alexander war bereits verheiratet und Vater eines Sohnes; seine Frau Josefina war mit dem zweiten Kind schwanger. Am 11. April, einen Tag nach Stellenantritt schildert er in einem Brief an sie den Arbeitsalltag. Er befinde sich auf einer Milchfarm in der Nähe von San Francisco, habe 25 Kühe zu melken, den Stall zu putzen und die Milch maschinell zu entrahmen. Seine Arbeit fange «morgens von 3 Uhr an bis 9-10 Uhr, nacher bin ich frei bis 3 Uhr, dann schaffe ich wieder bis 6-7 Uhr». Dafür erhalte er 40 Dollar im Monat, was 200 Franken entspreche. Das findet er «einen ziemlichen Lohn». Er lobt auch den Arbeitsplatz sowie die gute Verpflegung, berichtet aber später auch, dass er den Lohn manchmal erst mit grosser Verspätung erhalte. Zu Josefinas Trost schreibt er, wenn er gesund bleibe, könne er ihr bis nächsten Heumonat etwas Geld schicken. Auch sie solle gesund bleiben, so dass sie «einander wieder antreffen» könnten. Von ihr hofft er auch zu erfahren, was sein «liebes Söhnchen Adolph und, wenn’s dann geboren ist, auch was das andere Kind» macht.
Statt im Sommer 1911 konnte Walpen seiner Frau erst zwei Jahre später Geld überweisen. Immerhin 400 Franken, einen für die damalige Zeit beachtlichen Betrag. Damit solle sie Schulden abbezahlen und den Rest für den Haushalt brauchen. Eigentlich wollte er kurz danach nach Grengiols zurückkehren, aber der Ausbruch des Weltkriegs hatte zur Folge, dass er seine Familie erst 1919 wieder sah. 1980 erzählte der inzwischen 70-jährige Adolf im Gespräch mit Klaus Anderegg über die Begegnung damals auf dem Grengjer Bahnhof: Dann sei da ein fremds Mangji gekommen, und die Mutter habe gesagt, das sei der Vater. Viel Geld brachte dieser nicht nach Hause. Zum einen hatte er wenig zur Seite legen können, zum andern kostete ihn die Rückreise enorme 700 Franken.6
Zu Besuch im Wallis. Einige temporär Ausgewanderte verdienten dagegen so gut, dass sie nicht nur ihren Familien Geld schicken, sondern auf Besuch ins Wallis reisen konnten. Auf der Rückreise schlossen sich ihnen öfters neue Auswanderungswillige an. Ähnlich, wie es in der folgenden Briefstelle ausgedrückt wird:
Der Johann Augsburger ist aus Amerika zurick gekommen im Anfang November und verreist wieder im März. Es heisst, es gehen Viele mit ihm; das es sicher ist, verreist Lukas Lütolf und vieleicht deine Base Matild Kalbermatter; auch, wie man hört sagen, sei er wegen dera zurickgekommen, um sie zu holen.7
Wie viele junge Leute aus einem einzelnen Dorf sich zur gleichen Zeit in den Vereinigten Staaten aufhielten, zeigen die Aufzeichnungen von Vinanz Oggier, dem Empfänger des obigen Briefes. (Über ihn werde ich in der Folge ausführlicher berichten.) Er und ein weiterer Turtmänner reisten 1893 für einige Monate ins Wallis zurück. Zuvor hätten sie sich in Chicago getroffen, «um den 18 jungen Leuten von Turtmann Ade zu sagen»8. Als sie im Frühjahr wieder aufbrachen, schlossen sich ihnen mehr als ein Dutzend jüngerer Leute an, darunter ein Ehepaar und drei Frauen. (Auch dazu später mehr.) Die Reise vom Wallis bis Chicago dauerte knapp zwei Wochen.
Ein besonderer Fall war die Gemeinde Obergesteln. Nach dem Dorfbrand vom 2. September 1868 wanderten so viele Einwohner aus, dass es um 1900 hiess, es hielten sich mehr stimmberechtigte Obergesteler in San Francisco auf als in der Heimatgemeinde selbst. Tatsächlich half das von ihnen nach Hause überwiesene Geld, Bauschulden aus dem Wiederaufbau abzutragen. Am 4. September 1929 konnte man im «Briger Anzeiger» lesen, «dass ein Bürger von Obergesteln, der etwa vor einem Jahr in San Francisco gestorben ist, einen Teil seines Vermögens der Schule von Obergesteln vermacht» habe. (Dieser Mann hatte sich demnach dauerhaft in Kalifornien niedergelassen.)
Das heimgeschickte Geld tut wohl. Wie aus einer Notiz aus der «Amerikanischen Schweizer-Zeitung» vom 14. März 1896 deutlich wird, sorgte die physische Präsenz von Gruppen junger Walliser bei den Einwanderungsbehörden manchmal für besondere Aufmerksamkeit:
Die Beamten von Ellis Island schauten am Montag letzter Woche verwundert auf 12 stramme Prachtburschen, welche mit dem französischen Dampfer ‘La Bretagne’ angekommen waren [und] an ihnen vorbeimarschierten. […] sämtliche aus dem Bezirk Leuk, Kanton Wallis. Neun der jungen Männer reisen nach Troy, N.Y., um dort als Küher, Melker oder Käser in Stellung zu treten, und drei als gingen nach Philadelphia, […]
Schon früh wurde auch Bundesbern aufmerksam auf die Auswanderung junger Walliser nach Amerika. Man verlangte von der Kantonsregierung eine Stellungnahme. Diese gab den Auftrag an die Präfektur des Goms weiter. Vizepräfekt Guntern antwortete im September 1883 u.a. so:
In den letzten Jahren, waren es meist junge ledige Burschen und mitunter auch Mädchen, die ihr Reiseziel nach San-Franzisko in Kalifornien setzten, welche als Melker eine Anstellung gegen guten Lohn finden. Der grösste Theil dieser jungen Leute senden innert Jahresfrist ihr Reisegeld wieder anher und auch nachher bedeutende Summen kommen von denjenigen, die nicht bleibend sich dort nieder zu lassen gedenken, an; so dass es Gemeinden gibt, wo das Geld der Amerikaner wohlthuend auf die Verwandten wirkt.
Wie weit dies im Einzelnen stimmte, lässt sich nicht sagen. Jedenfalls hob Guntern die volkswirtschaftliche Bedeutung der Einzelauswanderung fürs Goms hervor. Herauszulesen ist auch, dass die Auswanderer das Geld für die Reise in der Regel geliehen bekamen (von wohlmeinenden und finanziell gut gestellten Leuten aus der Verwandtschaft oder Bekanntschaft). Dass sie es schon bald zurückzahlen und ausserdem auch der Familie Geld überweisen konnten, beweist, wie gut die Verdienstmöglichkeiten oftmals waren. Das Ganze erinnert stark an die 1960er-Jahre, als die damals als Fremdarbeiter bezeichneten Saisonniers aus Italien, Spanien und Portugal in die Schweiz kamen und einen Teil ihres Lohnes nach Hause schickten.
Grosse Bestürzung herrschte im Oberwallis, als nach dem 18. April 1904 erste Informationen eintrafen über das verheerende Erdbeben von San Francisco. Der Gemeindepräsident von Obergesteln wandte sich in einem Telegramm an das Berner Auswärtige Amt. Die Familienangehörigen der 35 in San Francisco lebenden Obergesteler seien sehr besorgt; er bitte um Auskunft über ihre Lage. Angehörige aus dem ganzen Oberwallis wandten sich an die Kantonsbehörde. Diese wiederum bat den Bundesrat, bei den amerikanischen Behörden Auskünfte einzuholen über die in Kalifornien lebenden Walliser. Schon wenige Tage später teilte der Bundesrat dem Staatsrat mit, dass man bisher keine Nachrichten über beschädigte Mitbürger habe. Aber erst Mitte Mai wusste man aus inzwischen eingetroffenen Briefen, dass es den Wallisern nicht so schlimm ergangen war, v.a. dass sie keine Toten zu beklagen hatten. Einigen war zwar das Haus «über ihnen zusammengebrochen», aber alle seien «mit dem Leben davongekommen».
Viele bleiben in Amerika. Mit Ausdrücken wie ‘Arbeitsmigration’ oder ‘temporäre Auswanderung’ suggeriert man, dass der Grossteil der Ausgewanderten wieder in ihr Heimatdorf zurückkehrte. Wie schon aus einzelnen Textstellen erkennbar wurde, war dem nicht so. Wer keine Aussicht hatte, zuhause einen existenzsichernden Hof zu übernehmen, für den oder die war eine Rückkehr keine sichere Option. Das lässt sich auch an der demografischen Entwicklung zeigen. Im Goms stieg die Bevölkerungszahl zwischen 1850 und 1910 nur um 1 Prozent, im übrigen Kantonsgebiet dagegen um 57,5 Prozent. Nach der Volkszählung 1900 fragte der «Walliser Bote» nach den Ursachen – und kam zu einer für ihn eindeutigen Antwort: das Fremdenfieber. Als Beispiel nannte die Zeitung die Gemeinde Ernen. Hier sei die Bevölkerung von 417 auf 356 zurückgegangen.
In derselben sind aber nahezu 40 Familien, deren ein, zwei, drei bis vier Mitglieder, wie wir sagen, in der Fremde sind. Einige im Welschland, in Rom, Paris, andere in England, Melker in Deutschland, Abenteurer in Amerika; und Portier’s und Kammermägde machen, wie sie in ihrem Rothwälsche berichten, eine ‘Säson’ hierzulande, eine andere im ‘Midi’, sogar in Kairo und Kapland.
Von ihnen kehrten ziemlich viele nie mehr zurück. Einige heirateten «in der Fremde» und hatten dort ihre Existenzgrundlage. Gerade von den Amerika-Auswanderern brachen manche die Kontakte zu den Angehörigen ab. Etwa wenn sie weiterzogen und die jeweiligen Aufenthaltsorte nicht mehr meldeten. Das führte manchmal zu Suchanzeigen wie der folgenden im «Schweizer Journal» vom 26. Mai 1927:
Wer Auskunft geben kann über den Aufenthalt von Theodor Imfeld von Ulrichen (Kt. Wallis), ist dringenst ersucht, seine Schwester, Mrs. A. Roth, 615 Mission St., San Rafael, Cal., zu benachrichtigen. Der Gesuchte ist etwa 55 Jahre alt und die letzte Nachricht von ihm kam von Oregon, wo er in der Umgebung von Portland als Farmer oder Melker beschäftigt war.
Wie man sieht, verloren sich manchmal auch gemeinsam ausgewanderte Geschwister aus den Augen. Wenn Anzeigen erfolglos blieben, wurden die Personen nach einiger Zeit als verschollen erklärt.
Wer die Sprache nicht lernt, kommt nirgends hin. Nicht alle Migranten mussten die sprachliche Hürde überwinden. Es gab grosse Milchfarmen, wo hauptsächlich deutsch gesprochen wurde. Das kam auch Wallisern gelegen. Kamil Guntern dagegen nahm das zum Anlass, die Stelle im Landwirtschaftsbetrieb eines Klosters, wo mehrheitlich Angestellte aus Bayern und Schwaben beschäftigt waren, bald wieder zu verlassen. Der 1893 geborene Guntern hatte sich zum Bäcker, Konditor und Koch ausgebildet und war 1928 nach Kalifornien ausgewandert. Wenn man in einem fremden Land lebe, meinte er später in einem Gespräch9, müsse man unbedingt die Sprache lernen; sonst komme man nirgends hin. Deshalb suchte er eine Anstellung in der Stadt, wo er einerseits Englischkurse besuchen, andererseits zusammen mit Amerikanern arbeiten und so sich sprachlich integrieren konnte.
Er begründete auch, warum damals so viele Migranten auf Farmen arbeiteten. Das habe auch daran gelegen, dass es in der Krisenzeit nach 1930 in den USA für viele Berufe Einwanderungsquoten gab. Anders in der Landwirtschaft, wo Infolge Landflucht die Arbeitskräfte fehlten. Kamil Guntern war wegen seiner Qualifizierung beruflich mobiler. Den Winter über arbeitete er jeweils als Koch in einem Restaurant. Als Assimilierter plante er keine Remigration. Seine Rückkehr Ende der 50er-Jahre ins Wallis war nur als zeitlich begrenzter Besuchs-Aufenthalt gedacht. Weil er kurz darauf heiratete und seine Frau das Wallis nicht verlassen wollte, kehrte er nicht mehr nach Kalifornien zurück.
Aufstiegschancen nutzen. Den Aufstieg vom Farmarbeiter oder kleinen Angestellten zum Selbstständigerwerbenden schafften Migranten, die geistig rege waren und sich sprachlich und beruflich qualifizierten. Ich will hier drei Beispiele nennen. Auch ohne spezifische Berufsausbildung schaffte Heinrich resp. Henry Nanzer aus Oberwald den Einstieg ins Milchgeschäft, was für ihn aber nur eine Zwischenetappe war. Einige Zeit später übernahm er das New Washington Hotel in San Francisco. Trotz des frühen Todes im Alter von 42 soll er es zu bedeutendem Wohlstand gebracht haben. So das «Schweizer Journal» im August 1928. Mindestens ebenso erfolgreich waren Baptist Hischier und John D. Hutter aus Oberwald. Sie arbeiteten in Gommer Gemeinden als Lehrer, als sie vom Amerikafieber gepackt wurden. Im Januar 1881 verliessen der 26-jährige Hischier und ein Dutzend junger Männer das Wallis mit dem Reiseziel Kalifornien. Hutter war ein Jahr danach ebenfalls dorthin unterwegs. Die beiden erwiesen sich als geschäftstüchtig; sie gründeten ein Dutzend Jahre nach der Einreise die «Swiss Reality Co. of California», ein Versicherungs- und Immobilienunternehmen. Hischier übernahm ein Jahrzehnt später auch die Redaktion des in San Francisco erscheinenden «Schweizer Journals». Als er sich mit etwa 65 ins Privatleben zurückzog, galt er als vermögender Mann. Das dürfte bei John D. Hutter ähnlich gewesen sein.10
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Dabei nahm man keine Rücksicht auf die Urbevölkerung. ↩︎
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Entspricht 330'000 Quadratmetern. (Heute sind Schweizer Bauernhöfe im Schnitt 30 ha gross.) ↩︎
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Wer über die eine Konzession hinaus Land wollte, musste es kaufen. ↩︎
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zit. nach Klaus Anderegg in einem unveröffentlichten Text zum Thema «Arbeitsmigration in die USA». ↩︎
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in: «Walliser Bote» vom 5. Januar 1889. ↩︎
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Adolf und sein Bruder wurden ab den 1950er-Jahren weit übers Goms hinaus bekannte Volksmusiker. Informationen über sie sowie musikalische Kostproben zu den von ihnen gegründeten Oberwalliser Spillit finden sich im Internet. ↩︎
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Moritz Oggier aus Turtmann im Brief an seinen Sohn Vinanz im Juni 1890. ↩︎
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Das waren gut 7% der damaligen Einwohnerzahl des Dorfes. ↩︎
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Klaus Anderegg führte in den 1980er-Jahren mit ihm ein Gespräch. Er war als 65-Jähriger ins Wallis zurückgekehrt. ↩︎
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Mir der Anglisierung des Namens signalisierte man auch, dass man sich zu assimilieren anschickte. ↩︎